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... trotzdem Ja zum Leben sagen (Viktor Frankl)

 «… trotzdem Ja zum Leben sagen» (Viktor Fankl)

 

Wir können die gegenwärtige Lage im Nahen Osten und den Krieg der Hamas mit Israel in seiner Tiefe nicht verstehen ohne dessen, was im Holocaust geschehen ist und letztlich zur Gründung Israel geführt hat. In diesem Zusammenhang eine Zusammenfassung der Erfahrungen von Viktor Frankl, dessen Text auch einer der ersten Grundlagen zur Erforschung von Resilienz für uns alle ist.

 

Bild Max Hartmannm

 

Zum besseren Lesen und Ausdrucken finden Sie den Text auch als PDF am Schluss.

 

Ich habe mir vorgenommen, einmal in meinem Leben das KZ Auschwitz zu besuchen. Im Frühling 2014 ist es so weit. Ich fahre mit dem Bus von Krakau und nehme mit Überraschung wahr, dass Auschwitz auch eine hübsche Provinzstadt ist. Ich frage mich: Was hat das damals mit den Leuten gemacht, als das KZ und später das Vernichtungslager Birkenau entstanden ist? Wieviel wussten sie, was dort alles geschah? Was heisst es heute, in Auschwitz zu leben inklusive dem Wissen um das, was weltweit mit dem Namen des Ortes verbunden ist?

 

Über dem Eingang des Konzentrationslagers steht der Spruch «Arbeit macht frei». Wie zynisch im Blick auf das, was tatsächlich geschah!

 

Das KZ und die Aussenstation Birkenau lässt sich nur in geführten Gruppen besuchen. Alle, die Führungen anbieten, sind durch ihre Herkunft mit der Geschichte des Ortes verbunden.

 

Später stehe ich an der Stelle, wo in Birkenau das Eisenbahngleis endet. Endstation und Selektion. Auf die eine Seite kommen diejenigen, die nicht zu Arbeit fähig sind. Es ist der grössere Teil. Sie werden direkt der Vernichtung zugeführt. Die anderen sind unter brutalsten Bedingungen zur Arbeit bestimmt, solange sie können, bevor auch sie in die Gaskammern kommen.

 

Einer der Häftlinge war Viktor Frankl, 1906 geboren in Wien. Er war jüdischer Herkunft, Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die auch heute noch angewendet wird.

 

Eines seiner bekanntesten Werke ist das im Jahr 1946 erschienene Buch «… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager». Er schildert seine Erlebnisse und Erfahrungen in vier verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, während des Zweiten Weltkriegs.

 

In seinem Buch geht er der Frage nach: Was geschieht mit einem Menschen in einer solchen Extremsituation? Wie ist es möglich, ein KZ durchzustehen?

 

Was er dazu sagt, ist für uns alle wichtig, denn auch wir werden mit den harten Seiten des Lebens konfrontiert: sei es ein Unfall, ein unerwarteter Tod, eine unheilbare Krankheit, ein Verbrechen und vieles anderes.

 

Mich selbst fordert es heraus, was mir bei Viktor Frankl begegnet. Sein Vorbild kann mich durch die dunklen Zeiten stärken. Seine Einsichten verdienen es, mehr als einmal zu lesen und auch anderen zu vermitteln.

 

 Apathie heisst, sich selbst aufzugeben

Viktor Frankl beschreibt zunächst, was mit der Seele eines Häftlings nach der Ankunft geschieht. Was einem bleibt, ist nur die nackte Existenz. Einige rebellieren und werden erschossen, andere bringen sich selbst um. Die meisten aber zerfallen nach dem ersten Schock der Apathie, der Abstumpfung des Gemütes. Das seelische Leben sinkt auf ein primitiveres Niveau herab. Der Mensch wird zum willenlosen Objekt des Schicksals oder Willkür der Lagerwache. Man versucht irgendwie zu überleben und wagt nicht mehr, sein Schicksal in die Hand zu nahmen und für sich hilfreiche Entscheidungen zu treffen. Diese Apathie ist ein Schutzmechanismus der Seele. Sie hat auch körperliche Ursachen: Hunger und Schlafmangel. Schon im normalen Leben macht das apathisch und gereizt. Es braucht wenig, und wir gehen an die Decke. Viele flüchten dann in jene Zivilisationsgifte, die normalerweise Apathie und Gereiztheit mildern: Alkohol, Nikotin und Koffein. Das aber hilft nur kurzfristig.

 

Was zudem neben dem Körperlichen entsteht, sind gewisse «Komplexe». Wir werden von einer Art Minderwertigkeitsgefühl geplagt. Wozu sind wir denn noch da? Die wenigsten haben ein gefestigtes Selbstwertgefühl. Wir grollen mit unserem Schicksal und sehen neidvoll auf andere, die es besser haben. Wir werden zynisch, machen boshafte Witze. Das ist die psychopathologische Erklärung der typischen Charakterzüge, die uns prägen.

 

Wir fragen uns dann: Wo bleibt die menschliche Freiheit? Sind wir nichts weiter als ein Produkt vielfacher Bestimmtheiten und Bedingtheiten, seien sie biologisch, psychologisch oder soziologisch. Ist der Mensch nicht mehr als das zufällige Resultat seiner leiblichen Konstitution, seiner charakterologischen Disposition und seiner gesellschaftlichen Situation? Kann man unter dem Zwang der Verhältnisse gar nicht anders?

 

 

Die innere Einstellung entscheidet

Die Erfahrung von Viktor Frankl zeigt, dass der Mensch sehr wohl anders kann. Es gibt Beispiele, die dies beweisen. Es existiert ein Rest von geistiger innerer Freiheit, von freier Einstellung des Ichs zur Umwelt auch in einer absoluten Zwangslage.

 

Man kann einem Menschen alles nehmen, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen.

 

«Und jeder Tag und jede Stunde im Lager gab tausendfältige Gelegenheit, diese innere Einstellung zu vollziehen, die eine Entscheidung des Menschen für oder gegen den Verfall an jene Mächte der Umwelt darstellt, die dem Menschen sein Eigentliches zu rauben drohen – seine innere Freiheit – und ihn dazu verführen, unter Verzicht auf Freiheit und Würde zum blossen Spielball und Objekt der äusseren Bedingungen zu werden. … Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben zu gestalten.»

 

Nicht nur ein tätiges Leben hat Sinn, in dem ich mich schöpferisch ausdrücken kann. Nicht nur ein geniessendes Leben hat Sinn im Erleben von Schönheit, Kunst oder Natur. «Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muss auch Leiden einen Sinn haben.»

 

Die Frage, die Viktor Frankl im Konzentrationslager beschäftigte: Werden wir das Lager überleben? Wenn ja, dann hat dieses Leiden, dieses Sterben rund um mich einen Sinn.

 

Mit dieser Einstellung eröffnet sich auch in den schwierigsten Situationen eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten. Der Mensch kann innerlich stärker sein als sein äusserliches Schicksal. Für einen unheilbaren kranken Menschen kann es sein, dadurch aufrecht und würdig in den Tod zu gehen. Wir wachsen zu menschlicher Grösse empor.

 

In extremen Situationen können uns Erinnerungen helfen: Vielleicht den Tag, an dem wir im Kino sassen oder ein ähnlicher Film vor unserem Auge abrollt. Vielleicht ist es im Krankenbett ein Baum, den wir sehen, wie er aufblüht. Es ist wie wenn er zu uns sprechen würde: «Ich bin da – ich – bin – da – ich bin das Leben, das ewige Leben.»

 

Viktor Frankl beobachtet, wie Menschen zerfallen, wenn sie keinen inneren Halt haben. Wenn wir erfahren, wie ein Leiden kein Ende hat, diese Ungewissheit aushalten müssen, dann ist es auch eine Frage, was wir unter Ende verstehen. «Ein Mensch nun der nicht das Ende einer (provisorischen) Daseinsform abzusehen imstande ist, vermag auch nicht, auf ein Ziel hin zu leben. Er kann nicht mehr, wie der Mensch im normalen Dasein, auf die Zukunft hin existieren. Dadurch verändert sich die Struktur seines Innenlebens. Es kommt zu inneren Zerfallserscheinungen. Alles wird sinnlos.

 

Anders dagegen, wenn mein Ende ein Ziel hat. Das Ende ist nicht bloss das Ende. Es gibt mehr. Ich bin nicht eine lebendige Leiche. Ich kann das Leben vom Jenseits her betrachten – von einem Zielpunkt in der Zukunft her.

 

Wenn die Gegenwart entwertet ist, kann ich mich darin fallen lassen. Oder ich gewinne einen Blick. Ich sehe das Wertvolle in meiner Vergangenheit, lebe von diesen Erinnerungen. Oder ich richte den Blick auf das Zukünftige, das Ziel über mein Leben in dieser Welt hinaus.

 

Nur wenige Menschen sind dazu fähig. Es gelingt ihnen im äusseren Scheitern und auch noch im Sterben zu einer menschlichen Grösse zu finden, die ihnen erst jetzt zugänglich wird. Das Eigentliche kommt erst.»

 

 

Psychohygiene

In der Extremsituation mit allen ihren psychopathologischen Erscheinungen gilt es, im Sinne einer Psychotherapie oder einer Psychohygiene entgegenzuarbeiten. Die meisten im Lager hatten etwas, das sie aufrecht hielt, und meistens handelte es sich um ein Stück Zukunft.

 

Viktor Frankl hat sich selbst so aufrechterhalten, dass er dann, wenn ihn das Elend beherrschen wollte er sich vorgestellt hat, er stehe in einem hell erleuchteten, schönen und warmen Vortragssaal an einem Rednerpult vor einem grossen interessierten Publikum und halte einen Vortrag über die Psychologie des Konzentrationslagers. «Und all das, was mich so quält und bedrückt, all das wird objektiviert von einer höheren Warte der Wissenschaftlichkeit betrachtet… Und mit diesem Trick gelang es mir, mich irgendwie über die Situation, über die Gegenwart und über ihr Leid zu stellen, und sie so zu schauen, als ob sie schon Vergangenheit darstellte. … Wer an eine Zukunft, wer an seine Zukunft nicht mehr zu glauben vermag, ist hingegen verloren, lässt sich innerlich fallen und verfällt sowohl körperlich als auch seelisch.»

 

Frankl ist sogar überzeugt, dass eine gute Psychohygiene das Immunsystem des Körpers stärkt. «Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.» (Friedrich Nietzsche) «Wehe dem, der kein Lebensziel mehr vor sich sah, der keinen Lebensinhalt mehr hatte, in seinem Leben kein Zweck erblickte, dem der Sinn seines Daseins entschwand – und damit jedweder Sinn eines Durchhaltens.»

 

 

Eigenverantwortung übernehmen

Die Einstellung, dass wir eh nichts vom Leben zu erwarten haben, führt dazu, dass wir uns aufgeben. Wir müssen uns fragen, was das Leben von uns erwartet. Welches Verhalten bringt weiter? Ich übernehme damit Verantwortung für die Beantwortung der Lebensfragen, und das nicht in einem allgemeinen Sinn, sondern konkret im Blick auf die Situation, die uns gerade herausfordert.

 

Für Viktor Frankl war das in seiner Situation im Lager, dass er das Leid nicht verniedlicht oder verdrängt hat durch billigen oder verkrampften Optimismus. «Für uns war das Leiden eine Aufgabe geworden, deren Sinnhaftigkeit wir uns nicht mehr verschliessen wollten.» Er sieht dem Leid ins Gesicht, auch wenn im darüber Tränen kommen, er schämt sich nicht. Er hat den Mut zum Leiden. Das ist der erste Schritt.

 

Was dann folgt, ist die Einstellung: Etwas wartet. Das Leben erwartet etwas von uns, und etwas im Leben, in der Zukunft wartet auf uns. «Ein Mensch, der sich dieser Verantwortung bewusst ist, die er gegenüber dem auf ihn wartenden Werk oder einem auf ihn wartenden lieben Menschen hat, ein solcher Mensch wird nie imstande sein, sein Leben hinzuwerfen.

 

Wichtiger als Worte ist ein Vorbild, das auf uns wirkt. Es beeindruckt, wenn Menschen nicht aufgeben. Auch das Wort hat eine Bedeutung. Menschen mit einem aufrechten und ermutigenden Wesen tun uns gut.

 

 

Ärztliche Seelsorge

«Was du erlebt, kann keine Macht der Welt dir rauben. Was wir in der Fülle unseres vergangenen Lebens, in dessen Lebensfülle verwirklicht haben, diesen inneren Reichtum kann uns nichts und niemand mehr nehmen. Aber nicht nur, was wir erlebt; auch das, was wir getan, was wir Grosses je gedacht, und das was wir gelitten. Mag es vergangen sein, es ist für alle Ewigkeit gesichert. …

 

Und dann sprach ich noch von der Vielfalt der Möglichkeiten, das Leben mit Sinn zu erfüllen. «Auf jeden von uns, sagte ich meinen Lagerkameraden, sehe in diesen schweren Stunden und erst recht in der für viele uns nahenden letzten Stunde irgendjemand mit forderndem Blick herab, ein Freund oder eine Frau, ein Lebender oder ein Toter – oder auch Gott. Und er erwarte von uns, dass wir ihn nicht enttäuschen und dass wir nicht armselig, sondern stolz zu leiden und zu sterben verstehen!»

 

«Und dann sprach ich, zum Schluss, von unserem Opfer; dass es Sinn habe, auf jeden Fall. Scheinbar nützt dies in einer Welt der Leistung nicht. Doch das Sich-Aufopfern für andere macht Sinn.

 

 

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