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Das Leben in einer Diktatur

 

Das Leben in einer Diktatur

Gespräch mit Maria Gavriliu

 

Kein Mensch kann sich aussuchen, wo er geboren wird. Das bewegt mich in meinem Gespräch mit Maria Gavriliu, der administrativen Leiterin des Kinderheims «Pentru copii abandonati» (für verlassene Kinder) in Ghimbav. Das Heim entstand auf Initiative der Heilpädagogin Sonja Kunz. 2007 reisen wir als Familie mit der Bahn nach Brasov/Kronstadt in Rumänien. Ganz in der Nähe befindet sich das Heim.

 

Maria ist nur einige Monate älter als ich. Und dennoch trennen uns Welten im Blick auf die Umstände, in denen sich unser Leben entwickelt hat. Es macht mir bewusst, wie behütet wir in der Schweiz leben. Das Gespräch wird für mich zu einem lebendigen Zeugnis im Blick auf die Realität einer kommunistischen Diktatur und was diese mit einem Menschen macht, und ebenso der Wende, die sich 1989 ereignet hat.

 

 

 

Was war das für eine Zeit, in der Maria Gavriliu geboren wurde?

 

Bis 1970 war es bei uns noch ziemlich gut. Die Grenzen waren offen, es kamen noch viele Ausländer an die Küste des Schwarzen Meeres, es gab Tourismus. Bereits zuvor begann es aber: Immer mehr Versorgungsengpässe gab es. Was wir nicht auf dem Markt gefunden haben, fanden wir bei Polen, Tschechen und Italienern. Ich erinnere mich noch gut, dass wir am Schwarzen Meer Seife, Shampoo, Handtücher und allerlei anderes gekauft haben. So hatten wir Gelegenheit, uns doch noch besser zu versorgen.

 

 Als 1970 die Grenzen geschlossen wurden und kein Tourismus mehr möglich war, war das das vorbei. Die Versorgungslage wurde immer schlimmer. Bereits zuvor mussten wir uns zunehmend beim Essen einschränken. Milch, Butter, Fleisch und Brot wurden rationiert, waren nur noch mit Bons erhältlich. Manchmal konnten wir über Restaurants uns mehr Lebensmittel beschaffen. Diejenigen, die für die Partei gearbeitet haben, hatten eigene Einkaufmöglichkeiten, wo sie mehr erhielten.

 

 Ich bin ein einem Quartier aufgewachsen, wo mehrheitlich deutsch- und ungarisch-sprechende Rumänen lebten. In Siebenbürgen gab es sehr viele Deutsche. Siebenbürgen ist bis heute die reichste Gegend von Rumänien. Das geht zurück auf den Fleiss der Deutschen. Weil ich mit ihren Kindern aufgewachsen bin, habe ich deutsch gelernt. Ich durfte in den deutschen Kindergarten gehen und habe die ersten vier Jahre die deutschsprachige Schule besucht. Von 36 Kindern in meiner Schulklasse waren nur acht rumänisch-sprachig.

 

 Ich bin ein Einzelkind. Meine Eltern mussten von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends arbeiten gehen. Ich konnte bei einer deutschsprachigen Familie zu Mittag essen. Die deutschen Mütter konnten zu Hause bleiben und für ihre Familien da sein.

 

 Als ich in die 5. Klasse kam, erliess Ceausescu ein Gesetz, dass die Rumäne nnicht mehr in eine deutsche Schule dürfen. Viele erfanden dann eine Tante, die deutschsprachig war, damit sie dennoch bleiben konnten. Meine Eltern wollten aber nicht lügen. Von den acht rumänisch sprachigen Kindern gingen nur drei in die rumänische Schule. Die anderen haben gelogen und deutsche Verwandte erfunden.

 

 Die rumänische Schule war hart. Wir wurden als ehemalige deutsche Schüler diskriminiert. Man hat uns als Faschisten bezeichnet. Ich wusste nicht, warum sie uns so behandelten. Das war schockierend. Die Jungs haben uns auch geschlagen.

 

Viele Rumänen sind auch heute noch sehr nationalistisch und abweisend zu anderssprachigen. Das sitzt sehr tief. Ich weiss nicht, ob das die Politik ist oder eine Geschichte über viele Jahrhunderte, in der sich die Rumänen als die guten Patrioten sehen. Es wurde immer betont, wie tapfer sie waren, wie sie die Türken, die Ungaren und die Österreicher besiegt haben, als diese kamen und sich unsere Reichtümer holen wollten.

 

 Wir haben immer diese nationalistische Geschichte gelernt. Auch im Fernsehen wurde dies ständig verbreitet. Es gab immer weniger Fernsehen, zuerst noch fünf, dann sogar nur noch zwei Stunden am Tag, und in dieser Zeit waren nur noch nationalistische Beiträge zu sehen. In der Tageschau wurde verbreitet, was unser Präsident alles Gute tut, mit wem er sich trifft, wohin er geht. Wir mussten als Kinder an Ceausescu und seine Frau Elena Briefe schreiben und sie loben. Ein Personenkult wurde gezüchtet.

 

 Ich erinnere mich noch haargenau. Meine Eltern sagten nichts dagegen. Viele Familien haben sich Sendungen des «Freien Europa» und der «Deutschen Welle» angehört. Wir aber nicht. Leute, die das gehört haben, kamen ins Gefängnis.

 

 Es gibt Dinge, die ich damals nicht gewusst habe, und auch nicht geglaubt hätte - bis nach der Wende, als alles offen ausgesprochen wurde. Ich habe immer gemeint, die Leute, die so etwas sagen, übertreiben. Erst nachher wurde mir bewusst, dass ich ihnen wirklich glauben sollte, was sie erfahren haben.

 

 Ich war eigentlich immer ein frei denkender Mensch. Als ich erwachsen war, wollte ich in die Partei und habe ein Gesuch geschrieben. Dann wurde man befördert und bekam mehr Lohn. Ich habe früh geheiratet, als ich noch Studentin war. Doch weil ich verheiratet war, wurde das Gesuch nicht angenommen, da ich ja bald schwanger würde und keine Zeit für Parteiarbeit hätte.

 

 Ich habe dieses kleine rote Buch gelesen über den gesellschaftlichen Fortschritt des Lebens im Sozialismus. Das hat mir sehr gefallen, der soziale Aspekt dieser Lehre. Ich habe gesagt: Ich will das so, wie es im Buch steht, aber nicht so, wie es in der Realität bei uns ist. Andere sind wegen solcher Bemerkungen ins Gefängnis gekommen. Ich sah, wie die Leute der Partei nur für sich selbst schauen, und alles ganz hierarchisch aufgebaut ist, und nicht so wie im Buch vorgegeben. Dort las ich, dass alle dieselben Rechte haben und alle gleich sind.

 

 In der Fabrik habe ich im Bereich der Planung gearbeitet. Wir mussten jede Woche jeweils einen Rapport schreiben, was wir gemacht haben. Wir mussten das aber so tun, dass es für die Partei vorteilhaft war.

 

 Viele machten Witze über diese Berichterstattung. Rumänien erntet so viel Weizen, dass die bei uns vorhandene Anbaufläche dafür gar nicht ausreicht. Die Leute wussten schon, dass es nicht stimmt.

 

 Es gab in diesem System die Kommunisten und die Informanden, die für die Securitate (Geheimpolizei) gearbeitet haben. Sie mussten über Mitarbeiter, Eltern und ihre Nachbarn regelmässig berichten. Sogar elfjährige Kinder haben das gemacht. Sie erhielten dafür Schokolade.

 

 Nach der Wende war ich sehr wütend auf Kollegen, von denen ich erfahren habe, dass sie an der Überwachung beteiligt waren. Man kann heute das Dossier verlangen, in dem steht, was über einem ausgesagt wurde. Es geht aber sehr langsam, bis Einsicht gewährt wird.

 

 Ich würde nicht auf jemanden zugehen, der das gemacht hat, und ihn zur Rechenschaft ziehen. Solche Leute tun mir eher leid, dass sie sich dazu hergegeben haben. Aber Hass wurde dadurch gesät. Viele können nicht verzeihen.

 

 Ich kann nicht akzeptieren, wenn gesagt wird: Ich habe mich nur aus Angst beteiligt. Ich habe nie Angst gehabt. Ich habe immer von Ceausescu gesagt: Er war, wie er war. Aber er hatte so viele Minister und Parteimenschen, die alles für ihn vorbereitet haben. Wenn er nach Brasov kam, waren die Läden voller Gemüse und Obst, Bananen und Äpfel. Nach 1989 haben diese Leute gesagt: Ich hatte Angst. Das waren Tausende von Leuten, die mitgemacht haben. Wenn wenigstens einige nicht mitgemacht hätten!

 

 Ich wollte eigentlich Psychologie studieren. Die Eltern wollten das nicht. Wenn schon studieren, dann Medizin. 1977, zwei Monate bevor ich die Aufnahmeprüfung machen sollte, hat Ceausescu das Studium für Psychologie gestoppt. Es gab das nicht mehr bis 1989. Es sollte nicht das Individuum, sondern das Kollektiv gefördert werden. Es wurde nie gefragt, was einzelne denken. Mitbestimmung wurde nicht gefördert. Kritik von oben nach unten gab es, aber nie umgekehrt.

 

 Ich bin Gott sehr dankbar, dass mir nie etwas geschehen ist, wenn ich trotzdem gewagt habe, meine Meinung zu sagen. Ich konnte einfach meinen Mund nicht halten. Manchmal habe ich auch mit meinem weiblichen Charme gespielt, so dass man es mir nicht übelnehmen konnte.

 

 Ich habe auch gelogen, zum Beispiel wenn ich Kaffee beschaffen wollte. Ich habe mir den Zeitpunkt ausgesucht, wenn der Chef des Restaurants nicht da war, und habe mich als dessen Bekannte ausgegeben, der er Kaffee versprochen hat.

 

 Was da mit mir geschehen ist, kann der Rest des Lebens nicht heilen. Es war so verletzend, sich so verhalten zu müssen. Ich habe es getan. Ich kam mir vor wie eine Prostituierte.

 

 Ich rege mich auch heute noch darüber auf, dass bei uns noch an vielen Orten immer noch das Wort eines Mannes mehr zählt als das einer Frau. Als Frau musst du dich schön kleiden, aufreizend wirken, damit du etwas erreichen kannst.

 

 Überhaupt zählt das Äussere sehr. Kleider und Frisuren - Mode – sind bei uns sehr wichtig. Die Leute verdienen wenig und geben es dann für Dinge aus, die eigentlich unnötig sind. Etwas Glänzendes, ein Armband, hohe Schuhe, tiefe Einschnitte in der Bluse zählt wahnsinnig viel. Diese Oberflächlichkeit regt mich auf.

 

 

1989

 

 Wir haben damals viel davon gehört, was im Westen unseres Landes, in Temeswar sich ereignet hatte ein reformierter, ungarisch sprechender Pfarrer Kenntnis von dem, was in Ungarn und in der DDR geschah: die Öffnung der ungarischen Grenze zum Westen im Sommer dieses Jahres und den Friedensgebeten in der DDR. Er rief die Leute auf, auf die Strasse zu kommen und zu zeigen, dass auch sie eine Veränderung wollen. Die Armee hat dann auf die Leute geschossen, und es gab Tote. Wir hier hörten davon von Mund zu Mund, nicht aus dem Radio.

 

 In meiner Fabrik gab es einen Aufruf. Der Direktor und der Chef der Ingenieure haben uns dann gesagt, dass das, was die Leute in Temeswar getan haben, schlecht ist. Wir sollten unser Einverständnis zeigen, dass wir das nicht für richtig halten. Wir sollten alle unterschreiben, dass wir gegen den Aufstand sind.

 

 Wir haben dann miteinander gesprochen. Viele haben gesagt: Es war aber auch dann, wenn es richtig war zu protestieren, nicht richtig, dass Leute getötet wurden. Nur ein Viertel der Belegschaft unterschrieb.

 

 Die Leute waren unzufrieden. Sie haben gehungert und gefroren. Die letzten sechs bis sieben Jahre waren wirklich sehr schwierig. Es war so kalt in den Wohnungen. Es kam kein Gas. Wir sind abends früh ins Bett gegangen, haben uns gut angezogen. Ich bin um vier Uhr aufgestanden, um zu kochen. Dann gab es etwas Gas. Um sechs Uhr bin ich zur Arbeit gegangen, jahrelang.

 

 Es wurde wirtschaftlich immer schlimmer. Nach der Arbeit sind wir vor den Geschäften Schlange zugestanden in der Hoffnung, dass es noch reicht für ein halbes Poulet im Monat. Für 250 g Wurst bin ich angestanden, und es hat oft nicht gereicht. Ich bin weinend nach Hause gegangen und hoffte, dass es nächste Woche klappt. Oder dass wir wenigstens geräucherte Knochen für eine Suppe mit Bohnen und Kartoffeln bekommen. Es war verzweifelt.

 

 Plötzlich gingen auch die Leute in Brasov auf die Strasse. Es gab bei in drei grosse Fabriken: die Traktorenfabrik und zwei Maschinenfabriken mit vielen tausenden Angestellten. Diese Fabriken hatten auch Wohnblocks für ihre Belegschaft erstellt. Dort gab es im Unterschied zu den Dörfern Elektrizität und fliessendes Wasser. Diese Arbeiter waren 1980 schon einmal wegen ungenügender Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wärme auf der Strasse gegange. Die Securitate schritt ein und hat viele ins Gefängnis gebracht. Nun kam es wie in Temeswar auch bei uns zu Aufständen.

 

 Ich habe gedacht, ich gehe auch. Die Direktoren schlossen aber die Tore, damit wir nicht gehen konnten. Wir sind dann über den Zaun geklettert und in das Zentrum der Stadt zu den vielen anderen gegangen, die dort versammelt waren. Es war abends um sechs Uhr, als die Armee in die Luft zu schiessen begann. Ich erinnere mich, wie ich weggerannt bin und möglichst rasch nach Hause wollte.

 

 Die nächsten Tage wurde viel geschossen, sogar vom Turm der Kirche herab, wo ich wohne und wo sich viele versammelt hatten. Es gab viele Spekulationen: Die Russen sind da. Wir haben geschrien: Wir wollen Essen. Wir wollen Wärme. Wir wollen genug für unsere Kinder.

 

 Und plötzlich begannen einige zu schreien: Ceausescu, das Neujahr wirst du im Grab erleben. Ich bin darüber erschrocken und habe gesagt: So etwas gefällt mir gar nicht. Ich kann für die ganze Misere in unserem Land die Schuld nicht einem einzigen Menschen geben. Das ist unfair.

 

 Ich weiss noch gut um die nächsten Tage, als wir im Fernsehen den ganzen Tag die Nachrichten uns angesehen haben. Ceausescu wollte in Bukarest zu den Leuten reden, doch er wurde niedergeschrien. Mit einem Helikopter ist er schliesslich geflüchtet.

 

 Es gab Gerüchte, er sei an anderen Orten. Mein Mann war unterdessen zurück von seinem Besuch bei seinen Eltern im Dorf. Er hat zu mir gesagt: Wir suchen Ceausescu. Wenn wir ihn finden, verstecken wir ihn bei uns im Keller, sonst wird er getötet. Wir haben in die Autos geschaut, die auf der Strasse fuhren, ob er irgendwo da ist. Er soll wie wir in einem Wohnblock leben und erfahren, wie das ist ohne Wärme und mit mangelnder Versorgung an Lebensmitteln.

 

 Im Süden wurde er dann in einem Dorf nach einem kurzen Prozess umgebracht. Die Armee übernahm das. Die Armee gilt viel bei uns. Sie ist so etwas wie ein Staat im Staat. Das Ehepaar Ceausescu wurde mit verbundenen Augen und die Hände auf dem Rücken gefesselt erschossen. Ich fand das total schrecklich. Elena Ceausescu hat zu den Soldaten gesagt: «Ihr Kinder, ihr Kinder, ich bin ja gerne die Mutter für euch. Was macht ihr Kinder mit uns? Wir wisst nicht, was ihr macht.» Das war am Weihnachtstag.

 

 So hat sich erfüllt, was die Leute bei den Protesten gefordert haben. Es waren aber nicht die Leute, die im Gefängnis waren und zuvor Unrecht erlitten hatten, die sich in einen solchen Hass gesteigert haben. Für mich war das primitiv.

 

 Ich war lange patriotisch. Aber jetzt gefällt mir in unserem Land nichts mehr ausser der Natur. Gott hat uns sehr viel Schönes gegeben. Doch die Leute sind schlimm. Vom Boden her gibt es so viele Argumente, dass wir reich sein könnten. Wir haben alles. Doch die Hälfte des Bodens ist unbearbeitet. Zu Ceausescus Zeiten wurde es noch genutzt. Doch der Ertrag ging damals zur Beschaffung von Devisen ins Ausland und nicht ins eigene Volk.

 

 Nach dem Aufstand gab es hohe Erwartungen, dass nun alles anders wird. Alle wollten nun in jedem Zimmer einen Fernseher, ein Auto. Neue Worte fanden den Weg in unseren Wortschatz, zum Beispiel das Wort «Stress». Ich habe lange nicht gewusst, was damit gemeint ist. 

 

Mein Vater war Kommunist, auch Ingenieur. Er sagte immer: Die im Westen sind schlimm. Er mochte es nicht, als ich mich entschloss, in die Schweiz zu gehen. Doch ich liess mich davon nicht abbringen.

 

 Ich erinnere mich gut, als ich dann das erste Mal in der Schweiz war. Ich war mit einigen der Schweiz befreundet, weil ich für das Kinderheim übersetzt habe. Ich sollte in ein kleines Geschäft in Stans gehen und einen Weichkäse holen. Bei uns gab es eine einzige Sorte Käse in einem grossen Geschäft. Ich wusste nicht, welchen Käse ich nun nehmen sollte, denn es gab in diesem kleinen Geschäft eine so grosse Auswahl. Zu Sonja sagte ich nachher: Ich verstehe, dass ihr gestresst seid. Was macht ihr mit so vielen Sorten Käse? Das gibt doch Kopfschmerzen, bis die Leute wissen, welchen sie nehmen sollen. Ihr seid gestresst und wir sind nervös. 

 

Die Zeit nach der Wende war chaotisch. Die Arbeiter in meiner Fabrik mit 30 000 Angestellten erhielten plötzlich mehr Lohn als Ärzte oder Lehrer, obwohl sie meistens zu Hause bleiben mussten, da die Arbeit fehlte. Es war klar, dass die Fabrik keine Zukunft mehr hatte. Aber kaum einer suchte einen neuen Weg, wie er sich eine echte Zukunft aufbauen kann. Die Leute blieben passiv. Ich entschloss mich, nun doch noch Psychologie zu studieren.

 

Die Bürokratie ist bei uns immer noch sehr gross. Die verschiedenen Institutionen arbeiten nicht zusammen. Ich muss stundenlang auf der Bank warten, bis ich alle Papiere habe, damit mir ein Betrag in eine andere Währung gewechselt wird. Der Bankomat ist blockiert, weil das Geld fehlt. Oder ich brauche viel Nerven und Zeit, bis ich herausfinde, wo gerade überhaupt Tickets für den Bus erhältlich sind. Kontrolliert und Bussen verteilt wird aber. Es gibt unzählige Funktionäre, die aber nicht funktionieren. Und unzählige Gesetze, die beachtet werden sollten und verhindern, dass etwas vorankommt.

 

Es ist unglaublich. Wir müssen andauernd Rapporte schreiben, dass wir als Heim wieder anerkannt werden, und das Jahr für Jahr. (Das ist heute nach wie vor so! Es ist ein riesiger Aufwand, wie wenn niemand interessiert wäre, dass das Heim überhaupt weiter bestehen kann. Es wird gehindert, statt gefördert. Dann wechselt wieder eine Person und die neue fängt von vorne an ohne die nötigen Vorinformationen. Das kostet unheimlich viel Zeit. Immer fehlt noch etwas.) Der Staat hatte Angst, uns Kindern zu geben, obwohl es dringend nötig gewesen wäre, da die staatlichen Heime nicht mehr weiter bestehen konnten. Die Zustände waren grauenhaft. Wir waren Pioniere. Monatelang haben wir gewartet, bis wir endlich starten konnten. Wir mussten es erkämpfen. Wir konnten manchmal nicht mehr schlafen.

 

 

Die beiden Gemälde aus dem Museum für die Schönen Künste Georgiens in Tbilisi erinnern an die Zeit der kommunistischen Diktatur. Alles wurde gleichgeschaltet, nur das Kollektiv zählte, nicht der einzelne Mensch. Dennoch wagten es einige, sich das eigene Denken und Handeln nicht verbieten zu lassen. Einige haben dafür einen hohen Preis gezahlt, sogar das Leben. Das System ist schliesslich – gottlob! – 1989-1991 wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.

 

 

Die Tonaufnahme des Gesprächs entstand im Sommer 2007. Da es ein eindrückliches Zeugnis ist, wie damals hinter dem "Eisernen Vorhang" das Lebens aussah, habe ich mich entschieden, es zu veröffentlichen, mit Einwilligung von Maria Gavriliu. 

 

 

Alle Fotos: Max Hartmann

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Sonja Kunz (Montag, 06 Dezember 2021 08:37)

    Wenn heute Menschen in der Schweiz im Zusammenhang mit Corona von Diktatur sprechen, wird vor allem ihr Nicht- Wissen
    deutlich.
    Für Menschen, die in einer Diktatur Leben oder gelebt haben, ist es einfach nur unverständlich, ärgerlich, verletzend.

  • #2

    Max Hartmann (Dienstag, 07 Dezember 2021 22:39)

    Da kann ich dir nur zustimmen. Ich vergesse die Begegnung mit Maria Gavriliu nie. Auch wenn ich mir das Leben in einer Diktatur nicht wirklich vorstellen kann: Ich konnte etwas davon erahnen. Und es hat bei mir einen hohen Respekt ausgelöst über den Mut von Maria, sich nicht die eigene Meinung nehmen zu lassen und sogar noch ihren ursprünglichen Traum - das Psychologiestudium - doch noch zu verwirklichen, als die Wende kam.