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Gibt es Zufall? - Kunst als Therapie

 

Heilende Bilder

 

Gibt es Zufall? Ich weiss es nicht. Wobei ich nicht daran glaube, dass wir Marionetten sind, fernbestimmt von etwas, das wir Schicksal nennen.

 

In der Bibel, Psalm 139, begegnet mir ein Gott, der mich wunderbar im Mutterleib gebildet hat Und der noch vor meiner Geburt alle meine Tage in sein Buch geschrieben hat. Also ein Gott, der um mich weiss, an mir Anteil nimmt, über mir wacht – auch dann, wenn ich es nicht wahrnehme.

 

Er ist ein Gott, mich meine eigenen Erfahrungen machen lässt. Er hält es aus, wenn sein Geschöpf sich von ihm entfernt. Wenn Gott mir gleichgültig ist, seine Existenz ablehne, ich nichts von ihm wissen will oder es besser zu wissen glaube. Ich kann mich für oder gegen ihn entscheiden.

 

Er ist ein Gott der offenen Arme. Er lädt zu sich ein, hofft, wartet und  freut sich, wenn ich komme.

 

Ich glaube ich an einen persönlichen Gott. Und ich glaube in einem sehr wörtlichen Sinn an Zu-Fall.

 

In diesen Tagen, in denen ich vom Tod des Ikonenmalers Ostap Lozinski höre, wird dies mir erneut bewusst. Drei Werke von ihm sind mir zur heilsamen Erfahrung geworden. Und dazu auch andere Kunstwerke, die mir in den letzten Jahren begegnet sind. Ich habe sie nicht gesucht, sie haben mich gefunden.

 

Es war kein Zufall, dass ich schon länger den Wunsch hatte, Lemberg zu besuchen und mir eine Ikone zu kaufen.

 

Es war kein Zufall, dass dort eine Ikone von Ostap Lozinski hing und diese mich blitzartig gefesselt hat.

 

Es war kein Zufall, dass diese Ikone das zeigt, was ich einige Monate zuvor geträumt habe, als ich mich für eine ernsthafte Behandlung meiner depressiven Erkrankung entscheiden musste.

 

Damals begegnete mir dieselbe Szene im Traum. Ein Mann kommt auf mich zu, will mir die Füsse waschen, kniet sich hin und tut mir wohl. Die Botschaft war klar: Lass dich behandeln. Lass es zu, dass dir gedient wird. Nur so kannst du Heilung erfahren.

 

Und es war kein Zufall, dass mir auf dem Weg durch die therapeutischen Prozesse auch andere Kunstwerke begegnet sind, die mir überraschend begegnet sind und mich zutiefst berührt haben und seither begleiten. Sie laden mich ein, mich darin immer tiefer zu verankern.

 

Da gibt es diesen magischen Moment im Chor der Klosterkirche in Volkenroda. Es war kurz bevor ich mich als Pilger auf den Elisabethenpfad unterwegs gemacht habe. Von aussen fällt scheint die Sonne hinein und lässt mich einen besonderen Glanz erfahren. Vor mir steht ein Kruzifix. Es ist nur ein Torso zu sehen -  Christus ohne Hände und ohne seine Schädeldecke. Er lag jahrelang unter dem Schutt der zerfallenden Kirche. Der atheistische Staat, die DDR, wollte damit sichtbar machen, dass der Gottesglaube dem Untergang geweiht ist. Links von mir sehe ich eine Ikone von Christus, dem Auferstandenen und Weltenherrscher. Was der Atheimus verkündet hat, traf nicht ein. Der Glaube an Christus war stärker als das damalige System, das seinen Bankrott erleben musste.

 

 

Dann gibt es für mich die Erfahrung beim Besuch des Museums für moderne Kunst in Aarhus. Ich trete in einem Raum und vor mir steht in naturgetreuer Darstellung und Übergrösse – 4,5 m hoch - die Figur «Boy» von Ron Mueck. Es ist ein Junge, der sich in grosser Anspannung hinkauert. Die Hände hebt er schützend über sich.

 

Ich bin überwältigt vom Gedanken: Das bin ich. Hier begegne ich mir selbst, meiner Kindheit und meinem Trauma, das ich damals erfahren habe. Diese Figur führt mich zur Wurzel meiner Erkrankung – zu dem, was in den psychotherapeutischen Gesprächen sich mir erschlossen hat.

 

Was damals war, hat sich in seiner Übergrösse in meiner Lebensgeschichte eingenistet. Es hat mir unbewusst sehr viel mit mir gemacht. Nun ist es offensichtlich geworden. Was war, kann seine Übergrosse verlieren. Der «Boy in mir» kann in seine natürliche Grösse finden.

 

 

Wie eigentlich fühlt es sich an, wenn die Depression das Leben beherrscht? Diese Erfahrung spiegelt sich in einem Bild, das mir im Museum für schöne Künste in Tiflis begegnet ist, der Hauptstadt von Georgien. Auch hier kauert sich jemand hin, wird zum Embryo, eingeschlossen in seiner Welt, von aussen nicht erreichbar. Er existiert nur noch.

 

Der Künstler, Oleg Timtschenko, verbindet durch seine Herkunft so vieles von der Tragik des letzten Jahrhunderts. Sein Grossvater war erfolgreicher Geschäftsmann im vorrevolutionären Russland. Die Grossmutter stammt aus Witebsk in Weissrussland – dem Geburtsort von Marc Chagall. Ich lese: «Aus diesem Grund ist ‘Migration’ das Schicksal des Künstlers, das durch die physische Umsiedlung seiner Vorfahren beginnt und in seiner Kunst verkörpert wird. Seine Gemälde sind Nachahmungen der ‘Migration’ in verschiedene Länder, Epochen, Räume und kulturelle Schichten durch sein persönliches oder genetisches Gedächtnis.»

 

Sind wir alle nicht in einer gewissen Weise Migranten? Da wandert etwas mit uns von unserer Herkunft, unseren Erfahrungen und Prägungen. Es begleitet uns oft unbewusst begleitet. Oder wir wissen darum, und halten es für bedeutungslos. Oder wir wissen darum, aber es scheint uns zu gefährlich, ihm näher zu begegnen. Wir weichen aus.

 

In der Therapie habe ich zunächst zaghaft gewagt, mich damit auseinanderzusetzen. Und auch Wut und Trauer zuzulassen über das, was mir widerfahren ist. Und dennoch nicht in der Rolle als Opfer zu verharren. Ich kann meinem Trauma begegnen und mich davon zunehmend lösen.

 

Als ich dabei war, mein Buchprojekt «Zurück zum Leben – Die Geschichte meiner Depression» abzuschliessen, gab es nochmals einen besonderen Moment. «Zufällig» besuchte ich die Homepage der Galerie Iconart in Lemberg. Ich schaute mich um, was die aktuelle Werke sind. Und wieder wusste ich sofort: «Das ist es. Das ist genau das, was dein Buch sagen will. Das Bild gehört auf den Titel.

 

Auf dem Bild gibt es eine Übergangszone – eine Linie, die nicht übergangen werden sollte. Wer nicht erkennt, dass er handeln muss, lebt gefährlich. Er kann in einen Sog geraten, der ihm sogar sein Leben kostet.

 

Ich bin dankbar, dass ich rechtzeitig erkannt habe: Nun brauche ich Hilfe. Es hat mich Überwindung gekostet. E war demütigend, es nicht mehr alleine schaffen zu können. Aber es war der Weg zurück zum Leben – zum Leben in seiner Buntheit. Danke, Yarina Movchan, für dein Werk!

 

Gegenwärtig stecke ich am Ende einer erneuten schweren depressiven Episode. Es war ein heftiger Rückfall. Und wieder geschieht mir «Kunsttherapie»: Es begegnet mir «Anima II», erneut ein Werk von Ostap Lozinski. Ich habe es noch während der Ausstellung gekauft, auch wieder über die Homepage.

 

Erneut bin ich mir und meiner Situation begegnet. Wieder kauert sich einer hin. Um ihn ist es dunkel. Doch über ihn steht die segnende Hand Gottes. Der Mann kann sie nicht sehen. Dennoch sie ist da. Auch wenn es durch die Dunkelheit geht, Gott ist mir dir.

 

Die Ikone gehört zu den letzten Werke von Ostap Lozinski. Er ist nicht mehr unter uns. Der Virus war übermächtig.

 

Doch seine Werke leben unter uns weiter. Und was ihn betrifft: Die Botschaft seiner Werke begleitet ihn. Was er geglaubt hat, kann er nun sehen.

 

 

Wir werden, was wir schauen

Dass alle diese Werke zu mir gefunden haben, ist für mich kein Zufall. Sie sind mir zu-gefallen. Und dies jeweils genau in meine Situation hinein. Sie sind mir zur Stimme Gottes geworden. Ich nehme sie seither weiter mit mir und sie entfalten für mich eine heilsame Wirkung, in die ich mich immer tiefer verankern möchte.

 

Peter Dyckhoff schreibt dazu: "Wir werden, was wir schauen. ... Was wir im Auge haben, das formt uns. Vieles strömt täglich auf uns ein: vor allem Tausende von bewegten Bildern, sie nicht nur von unseren Augen, sondern auch von unserem Inneren aufgenommen und verarbeitet werden. Wenn es eben möglich ist, sollten wir uns der Fülle der auf uns einströmenden bilder entziehen und eine Auswahl treffen. Wie wohltuend und heilsam ist es, im Innehalten ein Bild lange anzuschauen und zu verinnerlichen, das uns eine Botschaft aus tiefer Glaubensüberzeugung vermitteln möchte." (Henri Nouwen/Peter Dyckhoff: Bilder göttlichen Lebens - Ikonen schauen und beten)

 

 

Eine Ikone ist eine Kunstform, die Glauben braucht

 

Was eigentlich geschieht beim Ikonenmalen? In einem Interview beschreibt Ostap Lozinski, worum es ihm geht: "Was eigentlich ist der christliche Glaube? Es ist der Glaube an die Liebe zum Nächsten und zu Gott. Die Ikone ist eine riesige Schicht visueller und spiritueller Kultur, die auch in der Zeit der Postmoderne dazu beiträgt, viele neue Bedeutungen zu finden. Eine Ikone ist eine Kunstform, die Glauben braucht. Denn wenn du an einer Ikone ohne Glauben arbeitest, dann macht deine Arbeit keinen Sinn. 

 

Ich bin ein gläubiger Mensch, aber werde ich auch so angesehen? Es ist etwas sehr persönliches. Was ist die Kirche? Das sind wir alle. Die Kirche ist kein Bischof oder Priester, die Kirche, in den Worten Jesu: 'Wo zwei oder drei in meinen Namen zusammenkommen, da bin ich mitten unter euch.' Es gibt viele Dinge in der Kirche, mit denen ich nicht einverstanden bin. Es gibt Leute, die dieser vorstehen und sie leiten, aber nicht ihre wahre Mission, die Liebe, leben. Wenn wir die Kirche lieben, sollten wir die Probleme nicht verschweigen."

 

Interview Oksana Babenko, 20. Juli 2020

Künstler Ostap Lozynskyi: "In der Ikonographie ist es mir wichtig, Ideen von Humanismus und Liebe auszudrücken" - Die spirituelle Majestät von Lemberg (velychlviv.com)

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