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Das Heilige

Heilig. Was meint dieses Wort?

 

Wir bezeichnen etwas, was herausragend in einem für uns positiven Sinn ist, ein Stück Himmel auf Erden.


Von der Herkunft leitet sich heilig von «heil» ab. Ein Kind trösten wir mit: «Heile heile Säge. Drü Tag Räge. Drü Tag Schnee. Es tuet im Chindle nömme weh.» Heilig heisst somit auch: Etwas wird wieder gut und gesund – so, wie es eigentlich sein sollte. Im Englischen leitet sich «holy» von «whole» ab, ganz.

 

Im Alltag brauchen wir das Wort selten. Es begegnet uns in der Aussage: «Etwas ist mir heilig.» Heilig ist das, was mir wirklich wichtig ist. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was mir wirklich heilig ist: Woran ich unbedingt festhalten möchte und mir durch nichts und niemanden nehmen lassen will. 

 

Heilig ist ein religiöser Begriff. Gott wird als «heilig» bezeichnet und als «heilig» verehrt. In Jesaja 6 wird beschrieben, dass Gott als der allein Erhabene auf dem Thron sitzt und Engel um ihn sind, die ihn mit den Worten verehren: «Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll!» Das spiegelt, wie es im Himmel ist – dem Ort, wo alles «heil» ist, so wie es sein sollte, perfekt. Und es ist das Ziel, dass diese Heiligkeit nicht nur im Himmel herrscht, sondern auch auf der Erde.

 

Diese Erde wäre eigentlich ein heiliger Ort. Sie könnte und sollte es werden. Wir leiden, wenn es so nicht ist.

 

Die Bibel geht von der Vorstellung aus: «Ich, Gott, bin heilig, und ihr sollt auch heilig sein.» (3. Mose 20,26) Weil Gott heilig/heil ist, sollen auch wir heilig/heil sein. Wir sind seine Geschöpfe.

 

Doch wie erlebe ich mich und diese Welt? Es ist offensichtlich: So vieles ist nicht, wie es sein könnte. Zur menschlichen Existenz gehört Gebrochenheit. Oder salopp ausgedrückt: Wir sind «kaputte Existenzen». Und dennoch, in der Sicht Gottes, keine hoffnungslosen Fälle. Was kaputt ist, kann geheilt werden.

 

Dieser Glaube ist wichtig. Sie gibt uns Hoffnung. Sie beruft mich zum Einsatz von meiner Seite: Ich nicht auf, wo ich gescheitert bin. Es kann sich schon jetzt zum Guten wenden. Was unperfekt und gebrochen bleibt, wird zuletzt, in Gottes Ewigkeit, endgültig überwunden sein.

 

Unsere Vorstellung von «heilig» ist geprägt durch die Kirchengeschichte. Die katholische und andere Kirchen kennen besondere «Heilige». Der Papst kann ausserordentliche Menschen «heiligsprechen.» In der Kunst werden Heilige mit einem «Heiligenschein» dargestellt. Das zeigt die «besondere Aura» eines Menschen. Das Urbild der Heiligkeit ist Christus. Wenn Menschen heiliggesprochen werden, ist es deshalb, weil sich an ihnen etwas vom Wesen Christi ausserordentlich spiegelt.

 

Durch diese Geschichte ist der Begriff «heilig» aber zu etwas geworden, das uns unerreichbar erscheint. Wer bin ich schon im Vergleich zu diesen «Heiligen»? Ich bin allenfalls ein «komischer Heiliger».

 

Schon diese Gedanken zeigen, wie grundlegend das ist, was wir mit dem Wort «heilig» ausdrücken. Es lohnt sich, dem tiefer nachzugehen.

 

 

Im Blick darauf gibt es eine Studie, die «klassisch» geworden ist: das Buch «Das Heilige» von Rudolf Otto, erschienen 1917 und seither bis heute immer wieder aufgelegt.

  

Rational und irrational

Gott kann erfasst werden mit Prädikaten wie Geist, Vernunft, guter Wille, Allmacht, Wesenseinheit, Bewusstheit. Aber damit erschöpft sich Gott nicht. Doch Religion geht tiefer. Es gibt das Wunder der gelegentlichen Durchbrechung der natürlichen Ursachenkette, die rational so nicht möglich ist. Religion geht nie in ihren rationalen Aussagen auf.

 

Es zeigt sich in der für Gott eigentümlichen Kategorie des Heiligen. Dafür verwendet Otto das Wort «numinös» (Duden: das Göttliche als die unbegreifliche, zugleich Vertrauen und Schauer erweckende Macht)

 

Das Numinöse

Dieses Besondere bewirkt in unserem Selbstgefühl als Reflex das «Kreaturgefühl». Es zeigt sich in Dankbarkeit, Trauer, Liebe, Zuversicht, demütige Unterordnung, Ergebenheit; und hat Züge der Feierlichkeit.

 

Schleiermacher, ein Theologe des 19. Jahrhundert, bezeichnet es als «Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit: Das Gefühl, dass es mehr gibt, als wir erfassen und uns vorstellen können, und dass wir davon elementar existentiell abhängig sind.

 

Es zeigt mir, wie vergänglich ich als Kreatur bin. Diese Empfindung ist durchaus real, wirklich vorhanden. Etwas ergreift und bewegt mich. Erfassen lässt es sich nur mit Entsprechungen verwandter Gefühle, durch symbolische Ausdrücke.

 

Es ist das Gefühl des Mysterium tremendum, des «schauervollen» Geheimnisses. «Es kann das Gemüt mit milder Flut durchziehen in Form ruhender Stimmung versunkener Andacht: es kann so übergehen in eine stetig fliessende Gestimmtheit der Seele, die lange fortwährt, und nachzittert bis sie wieder abklingt und die Seele wieder im Profanen lässt Es kann zu fast gespenstigen auch mit Stössen und Zuckungen plötzlich aus der Seele hervorbrechen. Es kann zu seltsamen Aufgeregtheiten, zu Rausch, Verzückung und Ekstase führen.»[1]

 

Mysterium (Geheimnis) benennt «das Offenkundige nicht Begriffene und Verstandene, nicht Alltägliche, nicht Vertraute, ohne dieses selber näher zu bezeichnen nach seinem Wie.» Es ist etwas Positives und wird rein in Gefühlen erlebt.

 

a) Das Moment des «tremendum» (des Schauervollen)

In der Bibel ist vielfach vom «Gottesschrecken» die Rede: Einer intensiven Erfahrung der Begegnung mit Gott, die etwas anderes ist als sich zu fürchten. Sie ist ein heiliges Erschauern und Sich Scheuen in der Begegnung mit dem Numinosen - etwas Fremdes, Neues und Unheimliches. Das kann eine körperliche Rückwirkung hervorbringen: «Es lief ihm eiskalt durch die Glieder.» «Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken.» «Es geht durch Mark und Bein, die Glieder schlottern und die Haare sträuben sich.» Im Unterschied zum Dämonischen befindet sich die Seele in Freude, in Wonne und Erhabenheit, religiöser Seligkeit.[2] «Es entbrennt und äussert sich rätselhaft, wie gespeicherte Elektrizität, die sich auf den entlädt, der ihr zu nahekommt.»

 

b) Das Moment der Majestät

Im mystischen Erlebnis wird mir bewusst, wie klein und vergänglich ich vor Gott bin. Aber gleichzeitig ist dies nicht mit einer Abwertung meiner Existenz verbunden. Indem ich mich loslasse, Gott gross sein lasse, finde ich zu wahrer Erfüllung.

 

c) Das Moment der Energie

Die Begegnung mit dem lebendigen Gott ist lebhaft fühlbar und drückt sich in Lebendigkeit, Leidenschaft, Kraft, Wille, Erregtheit, Tätigkeit und Drang aus. Das Gemüt des Menschen wird aktiviert, mit ungeheurer Spannung und Dynamik erfüllt.

 

d) Das Moment des Mysteriums – das «Ganz andere»

Es gibt Momente, in denen ich mich nur wundern kann.[3] Das Wunderbare, das Wunder, lässt mich wundern. Ich begegne dem «ganz anderem», das dem Bereich des Gewohnten, Verstandenen und Vertrautem herausfällt. Es ist unfasslich, unerfasslich. Es geht nicht nur über alle Vernunft, es geht wider alle Vernunft.

 

e) Das Moment des Fascinans

Das Mysterium ist nicht bloss das Wunderbare, es ist auch das Wundervolle, das Hinreissende, seltsam Entzückende, sich zum Taumel und Rausch sich steigernde, Sühnung und Versöhnung Bewirkende.

 

Oft werden dazu Riten, sakramentale Handlungen oder Askese benutzt. Es lebt in Lobpreisungen des Heilsgutes, ist gegenwärtig in Feierlichkeit der Einzel-Andacht zum Heiligen wie in ernsthaft geübter Gemeinschaft. Eine Spur des Überschenglichen lebt in jedem Gefühl religiöser Erhebung. Oft sind es Erlebnisse der Gnade, Bekehrung, Wiedergeburt. Die Mitte bildet die Erlösung von Schuld und von Knechtschaft der Sünde.

 

In diesem Zusammenhang erwähnt Otto auch das vertonte Lied und die Musik rein als solche. Sie lässt etwas in uns anklingen, bewirkt eine Stimmung.

 

f) Das Moment der Erhabenheit

Die Begegnung mit dem Numinosen (Gott) lässt mich klein und unwürdig erscheinen und dennoch dem über alles Erhabenen würdig. «Ich bin unreiner Lippen und aus einem unreinen Volk, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch»: So bekennt der Prophet (Jes 6,5). Ich bin Kreatur, Gott aber ist über aller Kreatur. Er allein ist heilig und würdig zu nehmen «Preis und Ehre und Gewalt» (Offb 4,11). Was Sünde ist, versteht der «natürliche» Mensch nicht. Dass ich Gott nahe sein kann, ist unbegreifliche Gnade.

 

Divination im heutigen Christentum

Divination = das Vermögen, das Heilige in der Erscheinung echt zu erkennen und anzuerkennen

 

Im Zentrum des Christentums steht die Reich-Gottes-Predigt. Damit verbunden ist das Ideal einer Frömmigkeit als Kindesgesinnunmg und Kindesbestimmtheit auf Grund vergebener Schuld: «Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsst, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater.» (Römer 8,15)

 

Mit ihm ist das Prinzip nach Rechtfertigung, Wiedergeburt, Erneuerung, Spendung des Geistes, neue Schöpfung und Freiheit der Kinder Gottes gegeben.

 

Wie können auch wir zum Erlebnis des Heiligen kommen? Es ist nicht demonstrativ, durch Beweis, nach einer Regel oder nach Begriffen gegeben. Sondern rein kontemplativ durch ein sich Öffnen des Gemütes. Wer kontemplativ sich in die grossen biblischen Zusammenhänge versenkt, muss schier unwiderstehlich das Gefühl wach werden, dass hier ein Ewiges waltend und stiftend zur Erscheinung und zugleich auf seine Vollendung drängt. Er muss urteilen: Das ist gottgemäss, das ist das Heilige.

 

Es ist auch klar, dass gerade das Leiden und Sterben Christi zum Gegenstand besonderer starken Gefühlsbewertung und Intuition werden muss: das Mysterium des unschuldigen Leides des Gerechten. Das Kreuz Christi ist das Monogramm des ewigen Mysteriums, die Erfüllung.

 

Über den Wert und die Gültigkeit solch religiöser Intuitionen kann man naturgemäss nicht rechten mit Leuten, die auf das religiöse Gefühl selber sich nicht einlassen. Allgemeine Argumentation oder auch moralische Beweise verfangen hier nicht.

 

 

Bild

Für Rudolf Otto begegnet uns in Jesus der Heilige und das Heilige in Vollkommenheit. An ihm können wir es für uns entdecken. Das Bild stammt von einem georgischen Künstler und ist ausgestellt im Museum für schöne Künste in Tbilisil/Tiflis.

Foto Max Hartmann


[1] 1984 trat in der neocharismatischen Vineyard-Gemeinde in Toronto der «Toronto-Segen» auf. «Es handelte sich dabei um ungewöhnliche ekstatische Reaktionen der Teilnehmer auf das Gebet oder den durch Handauflegung persönlich empfangenen Segen.» (Wikipedia)

[2] Otto zitiert die Worte des Liedes «Gott ist gegenwärtig»

[3] Markus 16,16,5: Die Entdeckung des leeren Grabes «Und sie wunderten sich sehr.»

 

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