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Es gibt ein Recht zur Selbstverteidigung

«Selbstgerechte, unerträgliche Überheblichkeit»

 

Seine Replik auf den offenen Brief hat Wolfgang Müller zu überraschender Prominenz verholfen: innert 24 Stunden von 16 auf 6000 Twitter-Follower und eine Zweitveröffentlichung im «Spiegel».

 

Michael Schilliger

NZZ 07.05.2022

 

Herr Müller, lesen Sie die «Emma»?

 

Nein, eigentlich nicht, ich finde viele Positionen von Alice Schwarzer schon länger problematisch. Ich habe den offenen Brief auch zunächst gar nicht richtig wahrgenommen. Als ich ihn dann las, bin ich fast vom Stuhl gefallen.

 

Wieso?

 

Ob dieser Haltung, mit der da in einer selbstgerechten, unerträglichen Überheblichkeit den Ukrainern die Selbstvernichtung nahegelegt wurde. Dass jemand auf seinem warmen Sofa in Berlin-Kreuzberg sitzend sich erdreistet, Menschen, die vergewaltigt oder erschossen werden, zu erklären, dass sie sich nicht verteidigen dürfen – das ist an Erbärmlichkeit nicht zu überbieten. Und ihnen dann auch gleich noch die Schuld an einem möglichen Atomkrieg in die Schuhe zu schieben.

 

Sie sind in Hessen in der Nähe einer Militärbasis aufgewachsen. Ihre Replik beginnt damit, dass Sie beschreiben, wie Sie als Kind jeden Tag mit der Angst vor einem drohenden Atomkrieg lebten. Wenn die Übungssirenen erklangen, seien Sie von Angst durchtränkt nach Hause gerast auf Ihrem Fahrrad.

 

Ich bin 1975 geboren, die Angst vor einem Atomschlag war mir bis zum Ende des Kalten Krieges immer sehr präsent.

 

Haben Sie damals einen Umgang damit gefunden?

 

Angst war immer und ist bis heute ein grosses Thema in meinem Leben. Ich habe eine Angststörung, habe Panikattacken. Ich habe eigentlich jeden Tag Angst, vernichtet zu werden.

 

Das klingt vielleicht zynisch, aber hilft diese Erfahrung in der gegenwärtigen Situation?

 

Das ist gar nicht zynisch. Die Todesangst, die man bei einer Panikattacke empfindet, ist ja der Situation jeweils nicht angemessen. Der Körper reagiert da auf einen äusseren Anlass, einen Trigger, der quasi falsch verknüpft ist, und schüttet Botenstoffe aus, als ob das Leben tatsächlich bedroht wäre. Wenn man damit leben muss, lernt man, dass Angst eigentlich ein Fass ohne Boden ist. Es gibt in einem solchen Moment nie genug Sicherheit, um die Todesangst zu besänftigen. Man wird immer kleiner, rollt sich immer mehr ein, es ist ein selbstverstärkendes System. Die Angst lähmt und blockiert.

 

Wie kommt man da heraus?

 

 

Man muss das von sich entkoppeln. Es gibt da natürlich Therapieformen, man kann meditieren, etwas Haptisches machen. Aber grundsätzlich muss man sich erst einmal klarwerden, dass man gerade von Angst gesteuert wird. Und dann die Angst von sich entkoppeln. Bei einer Panikattacke versuche ich mir klarzumachen: Mein Körper hat Angst, nicht ich.

 

Ist denn der offene Brief in der «Emma», also die Haltung dahinter, mit einer Panikattacke vergleichbar?

 

Man könnte vielleicht sagen, dass der Brief einer Panikattacke entspringt. Zumindest verläuft die Diskussion ähnlich irrational wie während einer Angstattacke.

 

Die Bedrohung eines Atomschlags ist ja durchaus real.

 

Genau. Aber die Debatte verläuft unreflektiert. Nehmen wir das Argument, dass wir Putin provozieren, wenn wir schwere Waffen liefern. Selbst wenn dem so ist – die schweren Waffen werden ja bereits geliefert von anderen Ländern, Grossbritannien, Frankreich. Wenn Putin nun einen Atomkrieg anfängt – klammert er dann Deutschland aus, weil es als einziges Land keine Panzer geliefert hat? Und werden wir von der radioaktiven Wolke verschont deswegen? Das ist nicht rational.

 

Wieso verläuft die Debatte so irrational?

 

Es wirkt, als ob diese Angst vor einem möglichen Atomkrieg nun das Denken lenkt und sich mit den Überzeugungen der Menschen vermischt. Wir können uns auch fragen, was denn jetzt wäre, wenn keine Atomwaffendrohung im Spiel wäre: Würde man dann die Ukrainer auch zur Selbstaufgabe auffordern. Würde man dann auch zögern, schwere Waffen zu liefern?

 

Sie plädieren dafür, dass wir uns eingestehen, dass wir einfach Angst haben. Aber damit ist das Problem ja noch nicht gelöst.

 

Nein, natürlich nicht. Zuerst einmal: Es ist ja auch vollkommen in Ordnung, dass wir Angst haben. Wir dürfen auch als Nation zu dem Schluss kommen: Unsere Angst ist so gross, dass wir gar nichts machen und einfach zuschauen wollen. Aber nun konstruieren wir daraus das moralische Argument, dass andere Leute für uns sterben sollen, weil es sonst zu gefährlich wird für den Rest der Welt. Da ist man einfach falsch abgebogen.

 

Haben Sie mit Ihren Eltern darüber geredet, denen diese Angst ja wie ein Déjà-vu vorkommen muss?

 

Die sehen das sehr fatalistisch. Die sind eigentlich zur selben Haltung zurückgekehrt, die sie in den 1980er Jahren auch hatten: Wenn’s passiert, passiert’s, es liegt eben in einem gewissen Sinn nicht in unserer Hand.

 

Das sehen die Autoren des offenen Briefes anders. Sie sagen, wir könnten Russland besänftigen.

 

Ich bin kein Militärstratege, aber man muss doch klar sagen: Wir haben keine Atomwaffen, können damit auch gar nicht drohen. Das heisst: Wenn es einen Atomschlag gibt, dann einzig und allein deswegen, weil Russland das entscheidet. Wenn ein lausiger Panzer reicht, um einen Atomkrieg auszulösen, dann liegt das nicht in unserer Verantwortung.

 

Fatalismus als Lösung?

 

Angst lässt sich leichter ertragen, wenn man akzeptiert, dass gewisse Dinge nicht steuerbar sind. Ich kann mich nur quälen, wenn ich denke, ich hätte noch diese oder jene Option. Aber die Drohung Putins ist ja so unberechenbar, dass wir eigentlich kaum etwas tun können, um sie zu entfernen. Diesmal ist es ein Panzer, den man an die Ukraine liefert. Das nächste Mal droht er mit dem Atomschlag, wenn wir das Öl nicht mehr in Russland einkaufen. Israel muss seit seiner Gründung damit leben, dass es durchgehend mit der Vernichtung bedroht wird. Damit müssen wir vielleicht auch lernen zu leben. Mit dem Brief geschieht nun das Gegenteil.

 

Wie?

Wir versuchen durch irgendwelche Entscheidungen die Ursache der Bedrohung zu beseitigen, dabei liegt das gar nicht in unserer Macht. Aber der Brief ist aus einem ganz anderen Grund schäbig.

 

Schäbig?

 

Die Autoren erheben darin die eigene Angst zur Norm. Sie stellen ja ihre Schlussfolgerung als die moralisch richtige Lösung dar und verschleiern so, dass sie die Täter-Opfer-Logik umgekehrt haben. Man darf den moralischen Kompass situativ mal verlieren aus Angst. Aber man darf nicht anfangen, aus Angst Süden zu Norden zu machen. Es ist ein Unterschied, ob ich sage: «Ich bin Pazifist.» Oder: «Ich würde mich gerne verteidigen, aber ich getraue mich nicht.» Nur wenn wir diese Geisteshaltungen genau benennen, können wir überhaupt entscheiden, wer wir denn wirklich sein wollen.

 

Wie pazifistisch sind Sie denn selber?

 

Ich habe mich nie als Pazifisten begriffen. Wenn man ein Opfer ist, bewahrt einen die Friedfertigkeit nicht davor, angegriffen zu werden. Ich glaube, dass eine solide Verteidigungsfähigkeit die Grundlage für Frieden ist, solange es überall Waffen hat. Ich bin kein Freund von Krieg, gar nicht, aber es braucht wohl diese Abschreckung. Und das Zusammensparen der Bundeswehr und das Ausruhen auf den Nato-Partnern finde ich auch unerträglich.

 

Ist das eine Haltung, die in Ihrem Umfeld in Hamburg als Musiker verbreitet ist?

 

Ich weiss nicht, aber ich bin kein klassischer Linker. Ich würde mich als konservativen Linken bezeichnen. Ich finde Robert Habeck phantastisch, weil er eine integre Persönlichkeit ist, und hätte ihn mir als Kanzler gewünscht, auch Annalena Baerbock macht einen hervorragenden Job. Aber meine Position findet sich momentan in der Politik nicht wirklich in einer Partei wieder.

 

Hat Sie die Resonanz Ihres Textes überrascht?

 

Sicher. In den ersten Tagen habe ich bis zu hundert E-Mails pro Stunde erhalten. Zum Glück 95 Prozent positiv. Aber diese Debatte ist für mich eigentlich beendet, ich habe da keine weitere Expertise und muss mich auch nicht weiter einbringen. Es ist ein Once-in-a-Lifetime-Ding. Wie der Typ in der U-Bahn mit der Gitarre, der von jemandem gefilmt wird, und dann teilt es Taylor Swift auf Instagram. Das sind jetzt halt meine fünfzehn Minuten.

 

In einem Ihrer Songs suchen Sie Synonyme. «Ein neues Wort für Hoffnung», ein neues Wort für Mut, singen Sie. Haben Sie ein neues Wort für Angst?

 

 

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Der erste Begriff, der mir da einfiele, wäre Selbstschutz. Angst ist ja erst einmal etwas Gutes. Aber man muss sie halt immer wieder korrigieren, sonst befindet man sich nur noch im Fluchtmodus und sucht Schutz. Da die Balance zu finden, ist für alle wohl eine grosse Aufgabe im Leben.

 

Videoclip

https://youtu.be/cnHOB-gF4vw

 

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