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Würde ich in einen Hungerstreik treten, damit ich die Bibel lesen kann?

Wie viel ist mir die Bibel wert?

 

Meine kostbarste Bibel ist diejenige mit Bildern von Andreas Felger. Ich lasse sie bei mir zu Hause immer geöffnet und habe damit begonnen, sie systematisch zu lesen. 

 

Die Bibel ist mir kostbar. Sie ist unerhörte Grube, aus der ich mein ganzes Leben schöpfen kann. Ich bin längst nicht "fertig mit der Bibel".  Ich bin mit ihr nicht dem Sinn "fertig mir ihr", dass sie ich aufgegeben hätte, sie zu entdecken oder ich nicht mehr will. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die meisten "fertig mit der Bibel" sind, obwohl sie gar nicht mir ihr begonnen haben. Sie lasen nie in der Bibel. Das Buch steht irgendwo oder ist entsorgt worden. Man weiss ja, wie schwierig das Buch ist und längst veraltet, nicht zeitgerecht, unglaubwürdig. Mann oder Frau weiss es, ohne es je selbst überprüft zu haben. Bibellesen "macht man nicht". Es wäre geradezu peinlich, sich dazu zu bekennen.

 

Fertig mit der Bibel könnte auch heissen: Ich weiss es, kenne die Bilder von A bis Z, verstehe sie, leben danach. Dass wäre wohl eine arrogante Lüge.

 

Mich bewegt, was ich in den Memorien von Myroslaw Marynowytisch lese. Er ist 1949 in der Nähe von Lwiw/Lemberg 1949, studierte Elektro-Ingenieur, arbeite aber nur kurz im Beruf. Sein Leben nahm andere Wege an. Er wurde ein Kämpfer zur Wahrung der Menschenrechte in der damaligen ukrainischen Republik der Sowjetunion und ist Begründer der dortigen "Helsinki-Gruppe r

zur Wahrung elementare Rechte. Er war sich bewusst, dass er einen hohen Preis riskiert. So kam es. Nach einem Jahr Untersuchungshaft mit unzähligen Verhören wurde er zu sieben Jahren Straflager im Nord-Ural bei Perm verurteilt und zusätzlich fünf Jahre Verbannung in Kasachstan.

 

 $Heute ist er Vize-Direktor der neu gegründeten Ukrainisch-Katholischen Fakultät in Lemberg. Sie ist aus einer Kirche erstanden, die unter Stalin verboten wurde und nur im Untergrund weiter existieren konnte. Sein Engagement wurde auch mit einigen Auszeichnungen gewürdigt.

 

Ich bin seit einiger Zeit persönlich mit ihm in Kontakt, weil ich mithelfe, dass seine Erinnerungen auch auf Deutsch erscheinen können. Anfangs September ist es so weit. Hier ein Auszug - die Bibel betreffend:

  

Eine Bibel bei sich zu haben, war den Häftlingen verboten. In sowjetischen Lagern war die Legende verbreitet, daß es zu Stalins Zeiten nur einen Präzedenzfall gab, als in den Gefängniszellen Exemplare der Bibel und des Koran auftauchten. Damals wollte Eleanor Roosevelt in die UdSSR kommen, um die Bedingungen in den örtlichen Gefängnissen kennenzulernen. Nach ihrem Besuch schaffte man die heiligen Bücher aber schleunigst weg.

 

Es stimmt, in den 1970-er Jahren gelang es gläubigen Häftlingen jüdischen Glaubensbekenntnisses, eine Möglichkeit zu finden, religiöse Literatur bei sich zu haben, aber nur in Iwrit. Allen anderen, die kein IwritNeuhebräisch)beherrschten, blieb nur, sich mit dem Lesen des kämpferisch-atheistischen „unterhaltsamen Evangeliums“ von Leo Tolstoi zufriedenzugeben, das die Lagerbibliothek vorschlug. Zum Glück waren da hin und wieder Zitate aus dem wahren Evangelium anzutreffen. Von dort hatte ich sie persönlich auch übernommen.

 

Das war für mich natürlich zu wenig. Bereits in meinen ersten Lagermonaten ersann ich einen Ausweg. Weil im August 1978 Ihor Kalynez aus dem Lager entlassen werden sollte, vereinbarten wir, daß er in der Verbannung die Bergpredigt Christi abschreibt und mir per Brief ins Lager sendet. Meine Bitte vergaß Ihor nicht, und ich erfuhr davon es auf folgende Weise. Im Lager begegne ich einmal Surowzew, (der sehr brutale Lagerleiter)und er beginnt sich lustig zu machen: „A-ah, Marynowytsch, euer Vorhaben ist euch nicht gelungen! Sie vereinbarten mit Kalynez, dass er für Sie die Bergpredigt abschreibt und dachten, daß ich das nicht merke? Klappte nicht: Wir haben seinen Brief konfisziert.“ Das belustigte mich, denn er freute sich in der Tat echt, daß er diesen verbrecherischen Versuch aufdeckte und ihn rechtzeitig beseitigte!

 

Nicht minder ausdrucksvoll ist auch eine solche Notiz in der Ausgabe 65 der „Chronik“:

 

Njekipjelow wurde die Beschlagnahmung der bei ihm am 13. Juli 1982 als „mit verdächtigem Inhalt“ eingezogenen Niederschriften Gebete „Vaterunser“, „Glaube“ und „Jungfrau Maria“ mitgeteilt; der Leiter der Operativen Abteilung, Nikomarow, bestätigte, daß das „Vaterunser“ – ein Text mit „verdächtigem Inhalt“ ist.

 

Periodisch flammten im Lager Proteste auf gegen das Verbot, die Bibel zu lesen. Die Häftlinge schrieben Eingaben oder führten Hungerstreiks durch. So machte vom 26. Oktober bis zum 29. Dezember 1981 Oleksandr Ohorodnikow einen Hungerstreik, „indem er das Recht für Häftlinge forderte, eine Bibel zu besitzen, das Recht auf Beichte, Abendmahl und Gottesdienst mit einem Priester, das Recht, religiöse Zeitschriften zu abonnieren, die in der UdSSR erscheinen, das Recht, religiöse Literatur von Angehörigen und Verwandten zu erhalten, und das Recht auf Fernstudium an Priester-Hochschulen“ („Chronik der aktuellen Ereignisse“, Ausgabe 64).

 

Eine Gruppe von Häftlingen, unter anderen auch ich, verkündete am Tag der Menschenrechte zum Zeichen des Protestes mit ihm zusammen einen eintägigen Hungerstreik. Seine Forderungen unterstützend, wandte sich Wiktor Njekipjelow an den Patriarchen von Moskau und der gesamten Rus, Pimen, mit einem Appell, in dem er, nebenbei gesagt, die von ihm erhaltenen Erläuterungen des Staatsanwaltes des Gebietes Perm, Jasjew erwähnte, warum denn keine Bibeln an die Häftlinge verteilt werden.. Der Logik des Staatsanwaltes folgend, darf man Häftlingen nur Literatur geben, die in der UdSSR herausgegeben wird, doch die Bibel gab es, wie bekannt, im freien Verkauf im Land nicht.

 

Wie ich früher erwähnt habe, bewahrte die „Chronik“ die Erwähnung meines persönlichen langen Hungerstreiks für das Recht, die Bibel zu besitzen, nicht auf.

 

Ich kann mich nicht an den genauen Zeitpunkt erinnern. (Ich nehme an, es könnte 1980 gewesen sein.) Zuvor schrieb ich Erklärungen und, warnte, daß ich gezwungen sei, in den Hungerstreik zu treten, doch nichts half. Ab fünften oder siebenten Tag fing man an, mich von Zeit zu Zeit zu füttern, indem man mit Gewalt einen Schlauch in die Speiseröhre einführte, durch die ein nährendes Gemisch in meinen Magen geleitet wurde, damit ich nicht starb. Und an einem bestimmten Tag meines Hungerstreiks begriff ich, daß ich an der Grenze zwischen Leben und Tod stehe, und da kam in meiner Seele ein Zweifel auf: „Du, Junge, brauchst sogar die Bibel nicht zu lesen, um zu erfahren, daß Selbstmord zu begehen eine Sünde ist. Ist es etwa kein Paradox, daß du Gott besser kennen willst, deswegen aber Seine Schöpfung zerstörst?

 

 

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