Interview mit Myroslaw Marynowytsch


Schon früh trug ich den Wunsch in mir, die Ukraine besuchen zu können - dieses grosse und bei uns im Westen zumeist unbekannte Land. In der NZZ fand ich Reisetipps für die früher multikulturell geprägte Stadt Lwiw, auch Lemberg genannt. Ebenfalls in der NZZ las ich die Besprechung des Buches „Lemberg - die vergessene Mitte Europas“ von Lutz C. Klevemann und später las ich auch „Die Geschichte der Ukraine“ von Kerstin S. Jobst.

 

Gut vorbereitet flogen meine Frau und ich nach Lemberg - und waren mehr als nur überrascht. Die Stadt und damit das Land ist mir ans Herz gewachsen. Beziehungen entstanden: zur Galerie IconArt, wo ich bisher sieben Ikonen erworben habe. Dank Facebook konnte ich Kontakte zu den Künstlern aufbauen. Und ich stiess auf den Namen Myroslaw Marynowytsch. Sein Kampf um die Einhaltung elementarer Menschenrechte führte ihn für sieben Jahre ins Straflager und fünf Jahre in die Verbannung. Ich las die amerikanische Übersetzung seiner  Memoiren: „Das Universum hinter dem Stacheldraht. Danach suchte ich den Kontakt mit ihm und beteilige mich an der Herausgabe der deutschen Übersetzung.

 

Um noch mehr über ihn zu erfahren, schickte ich ihm einige Fragen. Hier das Interview:

 

Wenn Sie zurückdenken, was war die schlimmste Erfahrung für Sie? Und was war für Sie  dennoch wertvoll?

 

Ein Jahr in der Sowjetarmee war für mich psychologisch noch schwieriger als 7 Jahre Haft. Der Grund dafür ist einfach: Ich konnte in der Armee nicht einmal protestieren. Ich war gezwungen, dort ein Niemand zu sein: nur ein Individuum, keine Persönlichkeit. Und umgekehrt: im Arbeitslager gab es sehr schwierige Momente, sowohl physisch als auch psychisch; ich war manchmal dem Tod nahe. Aber es war mein Weg, ich hatte ihn mir selbst ausgesucht. Und ich war zu allem bereit. Meine Fähigkeit, alle Herausforderungen auf spirituelle Weise zu bewältigen, war für mich sehr wertvoll.

 

Welche Rolle spielt Ihr Glaube dabei?

 

Vor meiner Verhaftung war ich Agnostiker, aber während der Ermittlungen erlebte ich eine religiöse Offenbarung, die meine Wahrnehmung von Gott völlig veränderte. Erstens habe ich seine Gegenwart gespürt - er ist der Erste, der tut, wozu er uns aufruft: "Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen" (Mt. 25,37). Zweitens: Gott war für mich die Werteordnung, die ich zu schützen hatte. Koste es, was es wolle.

 

Wenn Sie sich die Geschichte der Ukraine ansehen, was bewegt Sie dann?

 

Die Tatsache, dass es uns gibt - trotz aller Versuche, uns zu vernichten. Und die Tatsache, dass es uns nach jeder Tragödie gelungen ist, unsere Seele wiederherzustellen.

 

Das Schlüsselereignis für die heutige Ukraine war wahrscheinlich der Maidan. Wie haben Sie ihn erlebt?

 

Ja, alle drei Maidans (1990, 2004 und 2013/14) waren große Revolutionen unseres Geistes. Politisch waren sie nicht so wichtig, aber spirituell waren sie einfach Explosionen unseres Geistes. Als ehemaliger politischer Gefangener fühlte ich mich während der Maidans zu Hause. Ich habe gesehen, dass die Grundwerte dieselben sind.

 

Die junge Generation spielt eine wichtige Rolle. Wie sehen Sie sie?

 

Sie sind in Freiheit geboren, und die Freiheit liegt nicht in ihren Händen, sondern ist in ihrer Seele verankert. Sie verstehen, was ihre eigene Würde bedeutet, auch wenn sie manchmal noch nicht verstehen, was die Würde anderer Menschen bedeutet. Maidans waren für sie eine große Schule der Win-Win-Kultur.

 

Wie erlebt die ältere Generation das alles: damals, heute?

 

Natürlich lebte ein (nicht so großer) Teil der ukrainischen Bevölkerung noch in der sowjetischen Vergangenheit, in ihrer "Sklaverei Ägypten". Es waren diese Menschen, die für Putin von Bedeutung waren. Gott sei Dank lehnte die Mehrheit der alten Menschen die Angebote seiner "Danaïnen" ab. Sie haben jedoch nie angedeutet, dass sie durch den neuen Krieg gehen müssten.

 

Warum ist Russland so, wie es ist?

 

Das wussten wir im Gulag ganz genau: Russland ist kein russischer Nationalstaat, sondern ein Imperium. Und das russische Imperium kann ohne die Ukraine nicht existieren - es verwandelt sich sofort wieder in Moskowien (Lilia Shevtsova).

 

Wer ist eigentlich Putin?

 

Nur die neue Inkarnation des Teufels. All seine Instrumente - Lügen, Hass, Gewalt, Erpressung, Heidentum, Diebstahl - all das sind die Instrumente des Teufels.

 

Und wer ist Selensky?

 

Er ist für mich der Beweis, dass es Gott ist, der die Geschichte beherrscht. Als die Ukrainer ihn wählten, hielt ich das für einen schrecklichen Fehler. Ich war verzweifelt. Jetzt verstehe ich, dass Gott der Welt einen 100-prozentigen Beweis dafür liefern wollte, dass die Ukraine kein "Nazi"-Regime ist. Er wollte einen Juden als demokratisch gewählten Präsidenten des Landes haben.

 

Vor dem Krieg war die Ukraine im Westen terra incognita. Jetzt ist das definitiv anders. Viele haben einen Vorteil: Sie stellen sich das Land als unterentwickelt, unattraktiv und völlig korrupt vor. Wie kommt das bei Ihnen an? Was würden Sie zu einem Schweizer sagen?

 

Respektiert ein Schweizer sein Land? Wahrscheinlich, ja. Aber wenn er oder sie sich das russische Fernsehen anhört, wäre das eine Überraschung: Die Schweiz, als Teil des Westens, ist der Ort der verdorbenen Werte, der verrotteten Politiker, und einfach vom Herrn verflucht. Gibt es dort Menschen, die gegen moralische Grundsätze verstoßen? Ja, natürlich. Gibt es korrupte Politiker? Ja, natürlich, einige von ihnen werden vom Kreml bezahlt. Wenden wir uns nun der Ukraine zu. Lange Zeit betrachtete der Westen die Ukraine durch die Brille Moskaus. Für den Kreml war es wichtig, die Ukraine als einen korrumpierten "Unterstaat" darzustellen, der nicht in der Lage ist, sich ohne die russische Zügelung selbst zu verwalten. Wenn ich das sage, heißt das nicht, dass die Ukraine eine ideale Demokratie ist. Aber um uns zu verstehen, muss man einfach die Moskauer Brille abnehmen.

 

Welche Rolle spielen eigentlich die Christen und die Kirchen in der Ukraine?

 

Sie sind im pastoralen Sinne sehr aktiv und organisieren humanitäre Hilfe. Ich würde mir wünschen, dass sie eine stärkere prophetische Stimme haben.

 

Was sagen Sie zu den so genannten Weltverbesserern im Westen, die das Ideal des Pazifismus kultivieren?

 

Ich werde grausam sein: Ich wünsche ihnen, dass sie EINEN TAG in russischer Haft verbringen. Das ist die beste Medizin gegen Pazifismus. Schauen Sie sich an, was Russland mit den Kriegsgefangenen aus Mariupol gemacht hat, die es unter der Garantie der UN und des Roten Kreuzes auszutauschen versprach.

 

Ist es einem Christen erlaubt, zu töten?

Nach meinem Verständnis darf ein Christ seine Familien verteidigen, wenn er an einem gerechten Krieg teilnimmt. Unsere Welt ist nicht ideal. Es ist jedoch für einen Christen verboten, aus Hass zu töten. Ich weiß, dass das wirkliche Leben komplizierter ist.

 

Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?

 

Ich bin mit dem Anruf meines Neffen in Kiew aufgewacht, der mir mitteilte, dass Kiew bombardiert wird. Die erste Reaktion war Trauer und Mitgefühl mit meinen Landsleuten. Die zweite war die folgende: "Das ist das Ende von Russland."

 

Die Ukraine muss den Krieg gewinnen. Ist das realistisch?

 

Es ist absolut realistisch - mit einer Bedingung: Die Welt wird uns mit den Waffen helfen. Das bedeutet, dass die Welt nicht denken muss: "Nun, wir müssen der Ukraine helfen, immer und immer wieder." In diesem Fall wird sich die so genannte "Ukraine-Müdigkeit" bald einstellen. Der richtige Weg ist zu denken: "Wir müssen uns durch die Ukraine selbst helfen." Denn wenn Russland gewinnt, dann ist die ganze internationale Ordnung, die auf Werten basiert, ruiniert.

 

Wie sehen Sie die Ukraine nach dem Krieg?

 

Ich sehe die Ukraine nach dem Krieg als ein vertrauensvolles Element der künftigen Weltordnung. Unsere Demokratie wird nicht ideal sein, aber unsere Stärke wird geschätzt werden.

 

Die Familie ist für Sie sehr wichtig. Wie sehen Sie das?

 

Erst als ich gewaltsam von meiner Familie getrennt wurde, habe ich verstanden, dass sie der Hauptpfeiler meiner Welt ist.

 

Wie geht es Ihrer Frau?

 

Sie lehrt mich, wie schön es ist, seinem Ehepartner mit Würde zu dienen. Ich habe den Unterschied zwischen dem Dienen für die Bedürfnisse anderer und der Unterwürfigkeit nicht verstanden.

 

Und Sie selbst? Hat Ihre Gesundheit durch die Zeit in Perm 36 Schaden genommen? Wurden Sie traumatisiert?

 

Ich hatte das Glück, dass ich bei der Inhaftierung noch recht jung war. So hat mein Körper überlebt, obwohl ich natürlich jetzt einige Folgen spüre. Psychisch habe ich das Trauma verarbeitet. Das war mein Weg. Ich habe mich freiwillig für diesen Weg entschieden. Das gibt Kraft.

 

 

Mehr zu Myroslaw Marynowytsch:

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Maria (Montag, 01 August 2022 09:05)

    Danke max! Gerade richtig zum 1.aug.,bringt mich zum nachdenken und danken.
    Lg maria