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Hiobs Botschaft - Das Geheimnis des Leidens (Richard Rohr)

Richard Rohr: «Hiobs Botschaft – Vom Geheimnis des Leidens»

Claudius-Verlag, 3. Auflage 2006

 

Das Buch Hiob hat für mich eine besondere Bedeutung. Zunächst durch die Tatsache, dass der Pfarrer damals, als mein älterer Bruder durch einen Unfall verstarb, Worte aus diesem Buch als Grundlage für seine Botschaft gewählt hat: «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen – der Name des Herrn sei gelobt.»

 

Diese Worte waren damals keineswegs tröstlich. Sie klangen schön fromm, waren aber schlicht zu viel in dieser Situation. Wie sollte jemand Gott loben können nachdem, was geschehen war? Dass meiner Mutter ihr Liebstes genommen wurde. Zurecht führte es nicht dazu, dass meine Mutter zu einem für sie tröstlichen und tragenden Glauben finden konnte. Im Gegenteil: Sie konnte dadurch noch mehr bloss «Warum» schreien. Warum mir? Warum uns?

 

In der Folge erlitt sie mehrere Nervenzusammenbrüche. Von da an hielt sie sich bis zu ihrem Lebensende dank Beruhigungsmitteln (Valium und Seresta) einigermassen durch. Und sie klammerte sich heftig an die ihr verbliebenen Söhne – und fand in ihnen nicht ihren verlorenen ersten Sohn wieder, der für sie der liebste war. Für uns andere Söhne war es verheerend. Wir konnten (und mussten) ihr nicht das geben, was sie verloren hatte. Wir fühlten uns aber genötigt, es doch zu tun. Das alles wurde für uns alle zum Trauma, das wir nicht bewältigen konnten. Und dann beide später zu depressiven Episoden (und bei meinem Bruder auch in die Alkoholabhängigkeit).

 

Für mich wurdes später das Buch Hiob zu einer besonderen Hilfe, als ich das ganze Buch zu lesen begann. Was der Pfarrer damals sagte, geschah nicht im Kontext der ganzen Hiobsgeschichte. Der völlig verzweifelte und trostlose Hiob wurde verschwiegen. Und damit seine berechtigte Rebellion gegenüber einem scheinbar frommen Glauben, der sich in sein Schicksal fügt.

 

Das Buch Hiob gibt Einblick in einen sehr authentisch anderen Glauben, der es wagt, zu hinterfragen, der sich nicht billig vertrösten lässt, der sich gegen einen zu einfach verkündigten Gott zur Wehr setzt.

 

Nun bin ich wieder einmal dran, dieses Buch Hiob zu lesen und als Hilfe dazu das Buch von Richard Rohr.

 

 

«Das Buch Hiob ist eine Geschichte, die von allen Glaubenden unter Schmerzen neu entdeckt und nachgelebt wird.» Und damit zu einer Erzählung des wirklichen biblischen Glaubens. «Es ist die Antwort jenseits aller Antworten und vor allen Antworten, die Nicht-Lösung, die alles löst.

 

 

1. Eine Bekehrungsgeschichte

 

Die Geschichte von Hiob wird meistens als eine Erörterung über das Mysterium des Bösen betrachtet.  Mehr als das sehe ich in ihr jedoch die Anatomie einer Bekehrung. Wenn wir die Hiob-Geschichte als Weg betrachten, als eine sich immer mehr vertiefende Begegnung mit Gott, können wir sie nicht mehr einfach abstrakt und distanziert erörtern. Über die Frage nach dem Leiden lassen sich keine distanzierten Debatten führen. Solange wir es nicht selbst gefühlt haben, solange wir nicht selbst einmal mit dem Rücken an der Wand stehen und da angekommen sind, wo alles Reden von Gott keinen Sinn mehr zu machen scheint, bliebt die Beschäftigung mit dem Buch Hiob bloss eine akademische Studie. Es bringt nicht viel, etwas nur vom Hörensagen zu wissen.

 

«Ich weiss, Sie haben Ihr Kind verloren, aber ich weiss auch, dass es nun im Himmel ist» - eine solche Antwort vermag allenfalls einen Menschen zu trösten, der selbst kein Kind verloren hat. Wenn wir wirklich einen schmerzlichen Verlust erlitten haben, verlieren Aussagen wie: «Gott hat einen grösseren Plan» ihren Sinn. Solange uns nicht die Gnade zuteil wird, dass wir uns in die Lager der Leidenden hineinversetzen können, bringen solche voreiligen, unbedachten Plattitüden überhaupt nichts.

 

Überhaupt ist es für uns schwierig, die Bibel zu verstehen, da wir nicht in einer Situation der Verfolgung leben. Und die meisten von uns sind nicht von Armut, Unterdrückung, Sklaverei oder Marginalisierung gezeichnet. Dies sind jedoch die besten Voraussetzungen, um zu verstehen. Wir müssen den Herrn bitten, dass er uns lehrt, zu fühlen, und nicht nur zu wissen. Es geht um einen Wechsel der Lebensperspektive, ein wirkliches Verstehen von innen heraus.

 

Es gibt auch so etwas wie einen kollektiven Hiob, ein ganzes Volk, das sich in einer aussichtslosen Lage befindet. (Das trifft gegenwärtig in einer besonderen Weise für die Ukraine zu).

 

Wenn ein Mensch stirbt, der nicht sterben sollte, ist das jedes Mal so etwas wie ein Lackmustest: Was ist, wenn das Leben nicht so läuft, wie wir meinen, dass es laufen sollte? (Unterdessen habe ich da schon einiges erlebt…).

 

Von Anfang an müssen wir uns unseren Ängsten und Zweifeln stellen. Wahre Religion besteht nicht in Verdrängung, sondern in Wandlung. Gott geht mit uns, mitten hinein in unsere Ängste. Er spürt sie, er macht sie sich zu eigen, er gebraucht sie, um uns zu lehren. Wir können sagen: «Ich habe Angst, Herr, wie gehe ich mit meiner Angst um?» Wir können Gott sagen, dass wir leiden und dass alles um uns zusammenbricht.

 

So kann es sein, dass Gott uns für einige Zeit Ruhe gönnte. Dann versetzt Gott uns einen knallharten Schlag, oder auch zwei, um uns dazu zu bringen, aufzustehen und weiterzugehen. Täte er es nicht, würden wir uns nie aus unserer gemütlichen Sicherheitszone heraus bewegen. Früher oder später kommt der Zeitpunkt, wo nichts mehr stimmt. Wenn du dich mit zweiundvierzig immer noch mit den Antworten zufrieden gibst, die du mit vierzehn hattest, würde ich sagen: Du hast dein Wachstum eingestellt. Und ich habe den Eindruck, dass genau das bei einem Grossteil der westlichen Christen zutrifft: Sie benehmen sich kindisch, statt zu werden wie Kinder.

 

Erst dann, wenn dich der Körper in Stich lässt, machen viele Menschen bei uns die Erfahrung, dass sie nicht das letzte Wort haben.

 

In praktisch jedem Krieg, den die Menschheit führt, wurde Religion als Rechtfertigung benutzt (genau das Tat heute Putin nach einem Jahr Krieg).

 

Jesus als Herr und Heiland zu haben, das muss vom Kopf ins Herz und den Bauch hinabsinken. Gott nimmt das Leiden der Menschen nicht einfach hin. Er heilt es nicht einfach. Gott steht an unserer Seite mitten im Leiden.  

 

 

2. Wie gehen wir mit dem Bösen um

 

Dass es in dieser Welt gut und böse gibt, ist unbestritten. Wie gehen wir damit um? Wir können nicht sagen, Gott sei böse. Damit kommen wir nicht weiter. Die allererste Grundaussage aller Religionen ist, dass Gott gut ist. Dann aber nehmen wir die Wirklichkeit, die vor unseren Augen liegt, in den Blick, und begegnen der zermürbenden Frage: Warum muss der gerechte Mensch leiden?

 

Hiob sieht sich als gerechter Mensch. Er hadert mit Gott, ja er verflucht ihn, aber in ihm ist von Anfang an eine gewisse Freiheit, die Gott von Anfang an erkennt und anerkennt. Er hat den Sinn seines Lebens in sich selbst entdeckt, in seiner Verbundenheit mit Gott. Er bezieht ihn nicht von irgendwo ausserhalb. Wenn unsere Stimmung jeden Morgen beim Aufwachen davon abhängt, ob die anderen nett sind zu mir oder nicht, wenn wir ohne Anerkennung von aussen nicht wirklich glücklich sein können, dann sind wir nicht wirklich glücklich, nicht wirklich frei. Glücklich sein ist letztlich eine innere Angelegenheit. In dieser Welt lässt sich die Frage, wer ich bin und selchen Sinn mein Leben hat, nicht wirklich beantworten. Deshalb spricht die Religion davon, dass unser Heil im Jenseits, in Gott begründet ist.

 

Von Anfang an wird im Buch Hiob festgestellt, dass kein Zusammenhang besteht zwischen der Sünde und dem Leiden einerseits und zwischen Anständigkeit und Belohnung andererseits

 

Die Freunde Hiobs kommen, um ihn zu beraten. Sie sind anständige, gläubig-religiöse Menschen. Und sie versuchen es mit all den typischen Lösungen. Jede Phrase aus dem Repertoire der Pfarrer, alle Stereotypen, die wir jemals gehört oder in frommen Büchern gelesen haben, bringen sie an. Sie sind auch ziemlich intelligent, doch das Ergebnis, zu dem das Buch Hiob kommt, ist dies: Keines von diesen vermeintlichen Heilsmitteln ist angemessen oder auch nur zutreffend. Sie gehen von der Annahme aus: Wir leiden, also müssen wir gesündigt haben. Den drei, später vier Freunden von Hiob geht es darum, ihre Vorstellung von Gott und ihre Vorstellung von Gerechtigkeit, um jeden Preis zu retten. Eine Zeit lang funktionieren diese Methoden einigermassen, aber nur so lange, bis man mit dem Absurden und dem offensichtlich Ungerechten konfrontiert wird.

 

Die Freunde bewahren ihre Theologie, Hiob bewahrt seine Beziehung. Hiob ist der «Leidende, der nicht leiden sollte» und wird so zum Vorläufer von Jesus, dem «Sterbenden, der nicht sterben sollte.» Beide lassen uns durchdringen zum eigentlichen, innersten Wesen des Glaubens.

 

Menschen, deren Glaube noch nicht durch echte Prüfungen gegangen ist, neigen zu einer sehr mechanistischen und unpersönlichen Spiritualität. Gereifter Glaube dagegen hat so gut wie immer etwas von Paradox und Mysterium in sich – dadurch bleibt Raum für die Freiheit Gottes.

Hiob ist ein Symbol für den rechtschaffenen Jedermann, den guten und gläubigen Menschen.

Spätere Denken wie C.G. Jung waren recht froh, hier in dieser Geschichte «das Böse» in Gott integriert zu finden.

 

Das Entscheidende bei all dem ist, dass die Bibel viel mehr aus der rechten Gehirnhälfte heraus entstanden ist als aus dem linken (recht: ein Gefühl für Kreativität; links: ein Gefühl für die Ordnung). Die Israeliten hatten keine Probleme mit dem Paradox, mit dem «sowohl als auch». Deshalb können sie Satan droben im Himmel auftreten lassen – als Berater Gottes.

 

Wir alle haben etwas Böses in uns. Wir alle haben den Samen der Gewalt in uns. Solange wir nicht die Verantwortung dafür übernehmen, werden wir weiter Opfer brauchen und andere in die Opferrolle drängen.

 

Ich glaube nicht, dass Gott das Böse schafft. Doch es ist klar, dass er es zulässt und in gewisser Weise auch für seine Pläne benutzt. Hier versagen die Worte. Doch es ist offensichtlich, dass das Böse «kreuz und quer die Erde durchstreift», es muss also von irgendwo kommen. Gott lässt bestimmt das Böse zu.

 

 

3. Ein Zugang zum Gebet

 

Seltsamerweise scheint Gott im Buch Hiob keinen grossen Wert darauf zu legen, als Held dazustehen. Im Buch Hiob taucht Gott auch nicht einfach auf wie Superman, um das Problem zu lösen. Statt dessen bleibt er vertrauensvoll auf seinem Beobachterposten am Rand des Spielfelds. Wer seine Macht kennt, kann ruhig zuwarten, weil er weiss, dass er die Dinge ins Lot bringen kann, wenn es sein muss.

 

Manche Menschen, die Gott nicht besonders gut kennen, gehen davon aus, er müsse seine Macht so einsetzen, wie sie es tun würden: als eine bezwingende Kraft. Sie wünschen sich einen göttlichen Zauberer, der mit einem Knall aus der Versenkung auftaucht, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Doch 37 Kapitel sagt Gott nicht einmal etwas: ein schweigender, verborgener, tatenloser Gott.

Es geht in der Beziehung zu ihm nicht um eine «richtige Theologie»; eine Antwort hat nur die Spiritualität. In der misslichen Lage gibt es keine vorgefertigten Antworten, nur eine Erwiderung im Gebet; nichts als den Willen, die Gemeinschaft nicht aufzugeben, dranzubleiben und das Gespräch nicht abreissen zu lassen. Der einzige, der mit Gott spricht, ist Hiob. Seine Freunde reden über Gott – über Gott, wie sie ihn sich vorstellen.

 

Wir haben im Buch Hiob eines der grossartigsten Bücher über das Gebet, das je geschrieben wurde. Hiob traut sich, Gott anzuklagen, also gerade das zu tun, was uns gerade nicht beigebracht wurde. Er schreit Gott an, macht ihm alle möglichen Vorwürfe, ja er macht sich geradezu über Gott lustig.

Echte Freude ist erst authentisch, wenn sie durch den Schmerz erworben wurde, nicht unter den Schmerzen hindurch, nicht darüber hinweg, sondern mitten hindurch.

 

Was Hiob durchsteht, nimmt in gewisser Weise die bekannten Phasen der Trauer und des Sterbens vorweg, die Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat: Verleugnung, Zorn, Verhandeln, Resignation und Annahme. Wir müssen durch die verschiedenen Phasen gehen, nicht nur den Tod am Ende, sondern all die kleinen Tode davor sterben. Wenn wir diese emotionalen Schritte auslassen und uns stattdessen mit schnellen Antworten zufrieden geben, nehmen sie nur eine andere Gestalt an, verkleiden sich anders, sie sinken auf eine tiefere Ebene und kommen dort in veränderter Form wieder auf. Es gibt so viele, die diesen Weg gehen – sie bekommen Magengeschwüre, alle Arten von inneren Krankheiten, Depressionen, Allergie und scheinbar unbegründeter Aggressivität, und das nur, weil sie ihre Gefühle nicht zulassen und ihnen keinen Raum geben, damit sie sich ausdrücken können.

 

Die Emotionen wollen ausgedrückt werden. Wer nicht tief fühlen kann, erkennt letztlich nicht die Tiefe. Hiob lässt seine Wut im Bauch zu. Dann geht er über in die Verhandlungsphase: «Warum» fragt er. Fragen stehen oft am Beginn der Verhandlungsphase.

 

Unser grundlegendstes theologische Problem besteht darin, dass Gott Gott ist und wir nicht. Es macht uns fertig, dass irgendjemand anders die Fäden in der Hand hat. Darüber beschweren wir uns. Bei Hiob begegnet uns sein Fragen als Rebellion und als Selbstmitleid. In einem klagenden und anklagenden Ton bringt Hiob seinen Fall vor, teilweise voller Sarkasmus. Ich glaube, wir müssen alle mehr weinen.

 

Wir haben eine falsche Vorstellung davon, dass Gott immer und überall die Fäden in der Hand hat. Im Johannesevangelium heisst es klipp und klar, dass Satan der Fürst dieser Welt ist. Mir scheint es, dass Gott sehr selten am Ruder sitzt. Gott scheint nur dann die volle Kontrolle zu haben, wenn wir sie ihm übergeben. Wir können die Kontrolle aus der Hand geben, wir können weinen statt zu erklären.

An Wut ist überhaupt nichts Verkehrtes. Es ist notwendig, dass wir unsere Emotionen zulassen. Wut ist nicht dasselbe wie Groll. Beim Groll unterdrücke ich und es ist doch in mir.

 

Im spirituellen Leben ist zuhören können sehr viel wichtiger als reden können. Alles, was wir tun können, ist, den anderen zu begleiten und ihm zu helfen, dass er sich selbst besser hört. Wonach sich die Menschen sehnen, ist, angenommen und verstanden zu werden. Das Erlösendste, was wir einander tun können, ist, angenommen und verstanden zu werden.

 

 

4. Hiob und seine Freunde streiten um Gott

«Woher nehme ich die Kraft, noch auszuhalten?» so fragt Hiob. Er ist nicht sicher, ob er diese Art von Glauben durchsteht. «Wie kann ich leben ohne jede Hoffnung?» Seine Freunde sind ganz gewiss keine Hilfe. Was sie ihm sagen müssten, sagen sie ihm nicht; wo er auf ihr Verständnis angewiesen ist, verstehen sie nichts, obwohl er keine hohen Ansprüche hat.

 

Er wünscht sich Mitgefühl mit dem, was er durchmachen muss, keine theologischen Antworten. «Wollt ihr mich wegen meiner Worte tadeln und merkt nicht, dass Verzweiflung aus mir spricht? Schaut mir doch einmal richtig in die Augen. Wie könnte ich euch anlügen! Hört auf zu richten, seid nicht ungerecht. Ich habe das Recht auf meiner Seite. Wenn man von Selbstzweifeln und Selbstkritik überschwemmt wird, fühlt sich das kleinste bisschen Verständnis an wie eine warme Dusche. Darum bittet Hiob.

 

Bildad regt sich darüber auf, dass Hiob sich beschwert, und er rügt ihn, weil Hiob es wagt, Gott in Frage zu stellen. Seine Freunde sind selbstgefällig in ihrer Theologie. Sie haben die Wahrheit gepachtet. Es kommt der Wahrheit viel näher zu sagen, dass wir durch unsere Gebrochenheit und Schwäche zu Gott kommen. Kein Wunder, dass echter Glaube so selten vorkommt und wir ihn so oft durch «nette» Religiosität ersetzen.

 

Hiob bleibt nicht vor Zweifel bewahrt. Ist er doch schuldig? Ein Mensch, bei dem Selbstzweifel auftreten, zieht sich zurück – oder er verstärkt seine Angriffe.

 

Wir tun unserer Jugend keinen Gefallen, wenn wir ihnen eine Welt vor Augen malen, in der Fairness verlangt oder auch nur erwartet werden. Seine Freunde sind noch nicht initiiert in das Loslassen und Aufgeben der eigenen Kontrolle, was das Herzstück aller traditionellen Initiationsriten bildet.

 

Zophar steht für den Appell an die konventionellen Weisheiten und den gesunden Menschenverstand. Er mahnt Hiob, sich zusammenzureissen, ruft Hiob zur Ordnung, zu Glauben und Vertrauen. Hiob seinerseits würde ihm gerne sagen: «Glaub mir, ich vertraue auf Gott, jetzt in diesem Moment, wenn du es nur sehen könntest!» Manchmal, wenn wir so wie Zophar allzu schnell zu Gottes Verteidigung herbeieilen, verfehlen wir Gott völlig. Die Menschen müssen mit dem Geheimnis leben.

 

 

5. Die Wahrheit ist der beste Verbündete Gottes

 

Je tiefer wir in das Geheimnis Christi eindringen, desto dünner wird die Trennlinie zwischen Freude und Leiden. Das sagen alle, die sich auf diesen Weg begeben haben. Für diese Menschen ist es manchmal gar nicht so leicht, zu unterscheiden, ob sie gerade Freude oder Schmerz empfinden.

 

Hat das Herz erst einmal kapituliert, ist die einzige Frage, die zählt: Tue ich Gottes Willen? Ob wir dadurch nun glücklich oder traurig werden, ist nicht mehr die oberste Priorität. Hiob empfindet an diesem Punkt immer noch Trauer, doch inmitten seiner Trauer brechen Freude und Lobpreis heraus. Empfangen hat er die Freude allerdings durch die Trauer hindurch, nicht indem er sie zu vermeiden suchte. Mitten im Leiden entdeckt er den Keim der Freude. Diese Freude ist unzerstörbar. Wir Christen nennen sie die ewige Gegenwart des Auferstandenen.

 

Wir brauchen Gott nicht zu verteidigen; er hat unsere Verteidigung nicht nötig. Es gibt fromme Menschen, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, die Rechte und die Würde Gottes zu verteidigen. Das ist zum guten Teil auch ehrenhaft, jedoch werden wir Gott mit Worten nicht wirklich verteidigen können, wenn wir die Wahrheit nicht auch leben.

 

Hiob verfügt über eine immense innere Autorität. Das ist das Höchste, was wir bieten können: die Überzeugung, dass wir die sind, die sein wir behaupten. Nur Menschen, die über innere Autorität verfügen, so wie Hiob, werden auch von äusserer Autorität korrekten Gebrauch machen. Die Kirche ist voll von Leuten die vom Hörensagen leben, die sich auf die Autorität von jemand anders berufen, aber nicht wissen, was sie selbst wissen.

 

Wen hast du getroffen? Für wen spricht du? Was kennst du? Was hat sich für dich als Wahrheit erwiesen? Was ist das Gute? Was ist das Böse? Was ist das Leben? Was ist Gerechtigkeit? Was ist Ungerechtigkeit? Auf meine Antworten kommt es an.

 

Dabei ist Fehler zu machen überhaupt nicht schrecklich. Das einzig Schlimme ist, wenn wir durch sie nicht erwachsen werden.

 

Gebrochen und voller Schmerzen bringt Hiob seinen Fall vor Gott. Lass uns wie zwei Brüder oder wie zwei Freunde miteinander reden. Dann bring deine Anklagen vor und ich werde dir antworten. Doch es kann auch sein, dass Gott nichts zu sagen scheint. Es macht uns wahnsinnig. Warum sagt er denn nichts? Schweigen kann eine schrecklich anklagende Kraft entwickeln.

 

In Hiob existiert auch ein Gott der Hoffnung: «Du würdest alle meine Schritte zählen, doch keine Liste meiner Sünden führen. Für immer würdest du die Schuld verschliessen, du deckt die Fehler zu.» Wenn wir uns von unserer eigenen Schuld überwältigt fühlen, an solchen Tagen, wo wir uns fehl am Platz fühlen, wenn wir meinen, mit unserer Kleinheit und Gebrochenheit nicht mehr leben zu können, wenn wir gar anfangen, uns zu hassen – dann ist es an der Zeit, den Kontakt mit dem demütigen Hiob in uns aufzunehmen.

 

Wenn du dich im Stich gelassen fühlst nimm das Buch Hiob in die Hand, sprich Hiobs Gebete und wisse, dass andere sie vor dir gebetet haben, dass wird Teil einer grossen Geschichte sind, und dass wir alle gemeinsam darin stecken.

 

Wir sind psychologisch gesehen völlig vereinnahmt von unseren eigenen Schmerzen, Unsicherheiten und Ängsten. Das ist der Preis, den wir für uns überindividualisiertes Selbst zahlen. Die Last, diese zerbrechliche Seele zu schützen, ruht nun vollständig auf uns als Individuen.

 

Ein Mensch, der sich dessen bewusst ist, dass er Teil des Volkes ist, braucht nicht zu beweisen, dass er etwas Besonderes ist. Seine Bedeutung kommt ja gerade aus dem Verbundensein mit seinen Brüdern und Schwestern, nicht davon, dass er sich von ihnen abhebt.

 

Nachdem die Hoffnung bei Hiob aufgewallt ist, fällt er wieder in den Fatalismus zurück. Und er wird erneut von einem seiner Freunde angegriffen. Wenn uns die negativen Stimmen überfallen, aus der Welt, von unserem Ehepartner, unseren Kindern, der Kirche, dann hat keiner von uns genügend Kraft, dagegenzuhalten. Es sei denn, wir stehen in engem Kontakt zum Transzendenten. Solange wir nicht unser Fundament in einer transzendenten Bezugsgrösse haben, sind wir fast völlig dem Urteil anderer über uns unterworfen.

 

Das Christentum funktioniert am besten von einer Rand- oder Minderheitsposition aus. Hier sind wir nicht käuflich. Wir haben es nicht nötig, uns anzubiedern, weil wir dort am Rand niemanden haben, dem gegenüber wir uns beweisen oder dem wir gefallen müssten. Jesus bezeichnete die Kirche als «Salz der Erde».  

 

 

6. Hiobs Riesensprung im Glauben

 

Wir können von Kapitel zu Kapitel beobachten, wie sich Hiobs Seele entfaltet. Der Text stellt uns nicht einen Menschen vor Augen, der kleiner und enger, sondern einen, der immer mutiger wird, zentrierter sogar in seiner Wut, seiner selbst zunehmend gewiss – auch Gott gegenüber. Das bedeutet geistliches Wachstum. C.G. Jung unterscheidet zwischen zwei Formen seelischen Leidens. Da gibt es einmal das «kleinere Leiden»: die kleinen Enttäuschungen des Ego, die wir alle erfahren, wenn unsere Fixierungen frustriert werden und wir verlieren, worauf wir Wert legen. Das Leid, nicht den eigenen Weg gehen zu dürfen, nicht anerkannt zu werden und Unannehmlichkeiten ertragen zu müssen. Dieses kleinere Leiden ist eine notwenige Schule. Wenn wir nicht lernen, diesen natürlichen Schmerz auf uns zu nehmen, werden wir uns in unserem weiteren Leben ironischerweise ein weit grösseres Leid schaffen, die zweite Form des Leidens.

 

Das «grosse Leiden» wir in den Menschheitsmythen und in der Bibel entweder durch Blut oder durch das Schwert dargestellt. Hier handelt es sich um den intensiven Schmerz, der immer Widerstand auslöst. Hat ein Mensch keine Übung in der Schule des kleineren Leidens, ist es ihm praktisch unmöglich, das grosse Leiden auf sich zu nehmen. Wer sein ganzes Leben in Autonomie und Egozentrik verbracht hat, wird die Erfahrung machen, dass er nicht wächst, sondern vertrocknet. Es braucht den Tod der falschen Persönlichkeit. Wir alle müssen diesen Tod in der einen oder anderen Form auf uns nehmen.

 

Im Neuen Testament wird Jesus mit dem leidenden Gottesknecht identifiziert. Aber auch Hiob wird uns als leidender Gottesknecht porträtiert. An Geschichten wie Hiob können wir erkennen, wie die Hebräischen Schriften uns darauf vorbereiten, das Leiden und Sterben Jesu zu verstehen.

 

In Kapitel 17 scheint Hiob in Verzweiflung zu versinken, oder besser: in Resignation. Er steht völlig alleine da. Hier aber, an diesem Punkt der absoluten Verzweiflung, ganz am Boden angelangt bricht er durch zu der Passage die wahrscheinlich die meist zitierte aus dem Buch Hiob ist. Er möchte es gerne glauben, er ist sich nicht sicher, ob er es glaubt, aber er muss es glauben, denn jetzt spielt er die Karte aus, auf die er alles setzt.

 

Doch nein, ich weiss, dass Gott, mein Anwalt, lebt!

Er spricht das letzte Wort hier auf der Erde.

Jetzt, wo die Haut in Fetzen an mir hängt

und ich kein Fleisch mehr auf den Knochen habe,

jetzt möchte ich in sehen mit meinen eigenen Augen,

ihn selbst will ich sehen, keinen fremden!

Mein Herz vergeht in mir vor lauter Sehnsucht.

 

Gott greift nicht irgendwann später ein; er will zurecht bringen, was hier auf Erden geschieht. Er beschützt die Unterdrückten und Kleinen jetzt. Er nimmt sich ihrer Sache an. Und Hiob wagt es, daran zu glauben.

 

Durch das ganze Buch hat Hiob nach einem Ausschau gehalten, der ihn verteidigt, der sich seiner Sache annimmt. «Ich glaube immer noch. Ich rufe Gott an gegen ihn selbst. Obwohl ich glaube, dass Gott mein Feind ist, glaube ich auch, dass er mich erlösen wird.»

 

Wir müssen Gott bitten, uns mit der rechten Sehnsucht zu füllen.

 

 

7. Verflixt noch mal, ich bin ein Mensch

 

Die Schrift hält immer daran fest, dass sich Gott für Witwen und Waisen einsetzt. Aber, behauptet Hiob, es gibt eine Menge Gelegenheiten, bei denen Gott sich nicht um Witwen und Waisen kümmert. Dieser Mann fürchtet sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen, so wie er sie wahrnimmt.

 

Hiob erinnert Gott: «Das ist deine Aufgabe, Gott. Du tust nicht, was du versprochen hast. Du kümmerst dich nicht um die zu kurz Gekommenen.»

Hier gibt uns keine Antwort. Die Antwort erfolgt erst viel später: in der Menschwerdung Christi, dem «Geheimnis des Glaubens», des ganzen österlichen Mysteriums.

 

Bildad beginnt eine zweite Rede mit einem grossen Hymnus auf die Allmacht Gottes. Kapitel 26 ist wahrscheinlich die genauste und poetischste Beschreibung des Kosmos in der Bibel. Das hat etwas Wunderbares – und etwas Weltflüchtiges. Doch Auferstehungstheologie gibt es nicht ohne Kreuzestheologie.

 

Hiob unterbricht die wunderschöne Kosmologie. Er schiesst zurück. Alles schön und gut, sagt er, ich weiss um Gottes Macht und Schönheit, aber das hilft im Augenblick nicht viel. Die Aussage, die Hiob macht, lässt sich so umschreiben: «Ich glaube, du sprichst mit dir selbst und nicht mir. Du versuchst, mit deiner eigenen Angst im Blick auf die Armen und Unterdrückten fertig zu werden. Du rennst davon weg. Du hälst dir selbst einen Vortrag über Gottes Grösse. Aber, mein Freund, von Gottes Grösse und der Schönheit der Welt bin ich vollkommen überzeugt, und du könntest das auch wissen, wenn du mir bloss einen Augenblick zuhören würdest!»

 

Was hier so eindrucksvoll ist, ist die couragierte Verteidigung des Menschseins. Hiob verteidigt nicht so sehr seine Vollkommenheit als seine Menschlichkeit.

 

 

8. Wie Gott das Böse betrachtet

 

Nach denn je drei Reden seiner Freunde und die Antwort darauf blickt Hiob zurück auf sein Leben. Er sieht die Zeit, als er erfolgreich, immer obenauf, von allen bewundert war. Diese Erinnerung ist bittersüss. Dann beklagt er sich lang und breit über die öffentliche Verachtung, die er danach ausgesetzt war. Zuletzt verteidigt er sich selbst – geht die gängigen Sünden durch und rechtfertigt sich, da es nichts zu bemängeln gilt.

 

Die möglichen Sünden:

-        Sexuelle Verfehlungen

-        Betrügerisches Handeln

-        Unfreundliches Verhalten

-        Ungerechtigkeit

-        Machtmissbrauch

-        Habgier

-        Götzendienst (u.a. Astrologie)

-        Rachsucht

 

All das trifft nicht zu. Was nun folgt, ist der Auftritt von Elihu. Er wirkt sehr selbstsicher, beinahe arrogant. Heute würden wir ihn vielleicht als den ersten der «zornigen jungen Männer» bezeichnen. Bisher hat er sich zurückgehalten, doch nun kommt er und meint, dass seine Meinung die Auflösung des Rätsels von Hiobs Leiden zeigt. Für ihn hat das Leiden einen erzieherischen Wert. «Gott mahnt den Menschen durch das Krankenlager.» Für Hiob ist auch dies keine hilfreiche Erklärung. Auch Elihu will Gott verteidigen und kann es nicht.

 

Nun kommt aber der Moment vor dem grossen Höhepunkt. Gott meldet sich zu Wort aus einem Wirbelsturm. Die ersten Worte lauten: «Der Herr … gab Hiob eine Antwort.» Gott geht aber auch keine der Klagen Hiobs ein. Alles, was Gott tu, dass er eine radikal neue Sichtweise eröffnet, die alle Antworten überflüssig macht. Gott lädt Hiob ein zu einer herzlichen Begegnung mit ihm. Und es scheint zu klappen: «Es ist gut Gott. Ich brauche keine Antworten mehr. Ich liebe dich, Gott, und ich weiss, dass du mich liebst. Endlich hast du zu mir gesprochen. Mehr wollte ich nicht. Sprich nur mit mir – egal, was du sagst.»

Nun stellst Gott seine Fragen an Hiob. «Wer bist du, dass du meinen Plan anzweifelst, von Dingen redest, die du nicht verstehst?» Implizit sagt Gott: «Ich werde dir sagen, wer ich bin, und ich werde dir zeigen, dass ich auf deiner Seite stehe. Und ich werde dir auch die Kraft geben, daran zu glauben. Nimm deinen Mut zusammen. Jetzt bin ich dran mit Fragen stellen, und du wirst mir antworten.» «37 Kapitel warst du dran mit Fragen. Jetzt werde ich die meinen stellen. Aber dazu nehme ich mir nur zwei Kapitel.»

 

Als erstes beschreibt Gott die Erde in einer wunderbaren Poesie. «Wo warst du, als ich die Erde machte und das Meer?» Als zweites verlangt Gott von Hiob zu wissen, ob der, wenn er die Verantwortung für die Welt hätte, sie steuern und regeln könnte? Ich kann und weiss das alles.»

Dann erleben wir, wie Gott eine Reihe von Tieren und Vögeln beschreibt und legt dabei den besonderen Wert auf seine liebevolle Fürsorge für jedes Einzelne von ihnen, da er sie alle geschaffen hat.

 

Gott beschreibt seine Schöpfung, und über jedem einzelnen scheint er zu sagen: «Ich habe das nur als Spass gemacht. Ich liebe diese Schönheit. Ich liebe Löwen und Ziegen. Ich weiss genau, wann er Zeit für die Geburt ist.»

 

Das Bild eines verschwenderischen und gütigen Gottes wird hier entworfen. Gott sagt uns, dass er sich über Leben in jedweder Form freut. Er schwelgt in Lebensformen. Wie oft wir es auch zerstören, wie viele Menschen wir auch umbringen, Gott schafft und schafft neues Leben. Gott ist ein wahrhafter Liebhaber des Lebens.

 

Einer der Furcht erregenden, schrecklichen Aspekte der Welt von heute ist, dass wir so gut gelernt haben, uns mit dem Tod anzufreunden, dass wir so leichthin Menschen töten und Dinge zerstören, und dass wir diesen Planeten mit all dem Leben auf ihm so auf die leichte Schulter nehmen. Tief in unserem Inneren wissen wir, dass diese zerstörerische Haltung die Antithese zu dem Gott ist, der im Buch Hiob beschrieben wird.

 

Der Gipfel der Schönheit ist die menschliche Natur. Deshalb müssen wir um jeden Preis den Schatz bewahren, den das menschliche Leben darstellt, und dürfen nicht zulassen, dass das Gesetz irgendeines Staates diesen Schatz entwertet. Und diese Verse geben auch dem Leben der Tiere eine hohe Priorität.

 

Hiob ist jedenfalls von Gottes Grösse beeindruckt: «Ich bin zu wenig, Herr! Was soll ich sagen? Ich lege meine Hand auf den Mund!» Doch Gott fordert ihn heraus, denn schliesslich hat Hiob ihn herausgefordert. «Steh auf jetzt, zeige dich als Mann!»

 

Viele sind zumindest enttäuscht über den Gott aus dem Buch Hiob, der die berechtigten Fragen Hiobs eigentlich unbeantwortet lässt. Es scheint keinerlei objektive Reaktion auf Hiobs berechtigte, schmerzliche Fragen zu geben. Für scheint es auszureichen, nicht aber für uns. Für uns bleibt das subjektive Problem des Bösen, des ungerechten Leidens und des verborgenen Gottes ein Dilemma, manchmal ein quälendes Dilemma. Wir wollen irgendeine objektive Reaktion von Gott.

Die heutige postmoderne Zeit hat eigentlich jegliche Hoffnung auf irgendeine objektive Antwort aufgegeben. Der entscheidende Punkt in der Hioberzählung ist die Andersheit. Gott unternimmt keinen Versuch, auf jedes seiner Anliegen Punkt für Punkt einzugehen, weil das ohnehin keine Befriedigung schaffen würde.

 

Jesus schweigt oft im Angesicht seiner Gegner: jedenfalls antwortet er niemals auf feindliche Fragen. Er antwortet niemals direkt, sondern versucht das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, die, wenn es gut geht, die Frage in einem neuen Licht erscheinen lässt. Gott scheint sehr gern den Fragen der Menschen auszuweichen. Wer guten Willens ist, wird sich darauf gern einlassen, weil ihm Wahrheit und Beziehung über alles geht. Die Offenheit gegenüber dem Anderen – in seiner Andersheit – befreit uns zur Kreativität und Originalität in unseren Reaktionen.

 

Nur die Begegnung mit der Andersheit kann mich verändern. Wenn ich nicht offen bin für das, was jenseits meiner selbst liegt, komme ich nicht weiter. Ohne den Anderen oder das Andere sind wir eingesperrt in einem unendlichen Spiegelkabinett, das immer nur meine eigene Weltsicht bestätigt und vertieft. Man könnte sagen, das zentrale Thema der biblischen Offenbarung sei es, die Menschen zur Begegnung mit der Andersheit zu berufen. Wir müssen Übung darin entwickeln, uns aus unseren Ecken hinauszubewegen, in denen wir es uns so gemütlich eingerichtet haben. Das ist nie eine natürliche Reaktion.

 

Der Gott, der Hiob aus dem Wirbelsturm heraus anspricht, ist kein Antwortgeber oder Problemlöser. Gott befreit aus dem Gefängnis unseres Selbst und gibt uns den festen Punkt, von dem wir «die Welt aus den Angeln» heben können.

 

Es gibt kein echtes Wissen ohne Glauben. Einzig die glaubende Begegnung mit einem transzendenten Bezugspunkt kann alles andere in die angemessene Perspektive rücken. Ohne den Glauben ist alles Wissen nur Information. Ob die biblische Offenbarung Frucht trägt, hängt mehr als alles andere davon ab, ob wir «einen Herrn» haben. Zuzulassen, dass Gott unser Herr ist, ist nicht so einfach wie dies glauben, jenes tun, sich an dies halten und jenes vermeiden. Es ist immer ein lebenslanger Prozess, eine Bewegung hin zu einer Einheit, die sich immer wie ein Verlust an eigener Wichtigkeit und Autonomie anfühlen wird. Das persönliche Ego wird sich quer stellen und rationalisieren, wo immer es kann.

 

Meine Erfahrung ist die, dass ohne Leid, Versagen, Demütigung und Schmerz kein Mensch freiwillig seine Selbstgenügsamkeit aufgeben wird. Wir meinen, in unserer Geschichte gehe es nur um uns. Das stimmt nicht.

 

Diesen ganzen Weg Hiobs kann man am Besten betrachten als den schmerzhaften Weg der Seele: das «Zurechtstutzen» der Rebe, ihre Reinigung von der vorgetäuschten Autonomie und der ganzen last, die damit einher geht – Selbstbestätigung und Selbstkritik. Freiheit bedeutet das Wissen, dass es auf beides nicht ankommt. Meine Bedeutung kommt daher, wer ich in Gott bin und wer ich als Teil eines grösseren Ganzen bin. Gott trägt mich mit meinen guten und meinen schlechten Anteilen. Es scheint nur zwei Wege zu geben, auf denen wir das wirklich am eigenen Leib erfahren können: Gebet und Leiden.

 

Ein ganzes Kapitel in der Rede Gottes ist dem Nilpferd und Krokodil gewidmet – Bilder der wilden und freien Seite Gottes, die wir nicht kontrollieren und auch nicht verstehen können. Gott ist ein persönlicher Gott – und nicht einfach eine vorhersehbare Kraft.

 

Hiob muss seine Reinheit nicht länger unter Beweis stellen. Er braucht sie nicht zu erwerben. Er braucht sie nicht zu besitzen. Das ist seine Freiheit. Nicht gewinnen müssen. Nicht beweisen müssen, dass man im Recht ist. Nicht in Ordnung bringen zu müssen.

 

Hiob bietet das Bild der wahren Erleuchtung. Er besitzt Gott nicht. Gott besitzt ihn.

 

Der zweite Höhepunkt im Buch Hiob ist die Antwort, die Hiob Gott gibt. «In meinem Unverstand habe ich von Dingen geredet, die mein Denken übersteigen. Ich kannte dich bisher nur vom Sagen; aber nun hat mein Auge dich gesehen.» Nun ist Hiobs Sehnsucht erfüllt: Gott mit eigenen Augen sehen und nicht bloss vom «Hörensagen» zu wissen. Hiob ist wahrgenommen und anerkannt worden, deshalb braucht er keine Antworten mehr. Mit anderen Worten: «Ich brauche mich nicht schuldig zu fühlen und mich nicht zu verteidigen. Hauptsache: Du schaust mich an und ich schaue dich an.» Uns wird Ehre zuteil, wenn wir Gott die Ehre geben. Wenn wir versuchen, loszulassen und Gott unser Leben zu geben, gibt er es uns zurück.

 

Was die drei Freunde betrifft, bekommen sie einen theologischen Tritt in den Hintern. Alle ihre Argumente waren falsch – theologisch zwar korrekt, aber persönlich und subjektiv falsch. Doch auch sie werden freigesprochen durch ein Opfer Hiobs an Gott.

 

 

9. Heraus aus dem Schatten an das Licht

 

Das Problem des Bösen ist eines der grössten Dilemmas, mit denen sich die Menschen herumschlagen müssen. Es ist viel leichter, theologische Diskussionen darüber zu führen, als im wirklichen Leben damit klarzukommen.

 

Im Vaterunser beten wir darum, dass Gott uns niemals einer solchen Prüfung aussetzen möge, denn kein Mensch kann sicher sein, dass er sie bestehen wird. Die Gnade, zu bestehen, wird immer erst gegeben, wenn der Moment eintrifft, und dann müssen wir darum bitten.

 

Das Buch Hiob bietet drei verschiedene Lösungen für das Problem des Bösen: Die erste geht davon aus, dass Gott nicht allmächtig ist. Die zweite besagt, dass Gott nicht gerecht sei. Die dritte behauptet, der Ursprung des Bösen liege im Menschen.

 

Hiobs Freunde wählen die dritte Möglichkeit. Hiob entscheidet sich für die zweite.

 

Müsste ich entscheiden, wäre meine Wahl am ehesten bei der ersten Option. Unsere Definition Gottes als allmächtig und immer alles im Griff habend ist nicht adäquat. Ich glaube aber, dass man sehen kann, wie die Macht Gottes irgendwie aus den Händen gleitet. Anscheinend ist der Herr nicht immer Herr.

 

Indem er uns das Geschenk der Willensfreiheit übergeben hat, hat Gott zumindest einen Teil seiner Omnipräsenz aufgegeben. Eine solche Herausforderung scheint der einzige Weg zu sein, wie in uns absichtslose Liebe wachsen kann. In gewisser Weise ist es notwendig, dass unser System auseinanderfällt. Dann erst beginnen wir den Ringkampf mit Gott. Wir beginnen, uns dem Problem der Unvollkommenheit und des Lebens in einer begrenzten, unheilen Welt zu stellen.

 

Was macht uns so anmassend zu denken, wir sollten vollkommen sein? Wir scheinen zu glauben, nur das Vollkommenes verdiene unsere Liebe.

 

Jesus spricht darüber im Gleichnis von der Saat und dem Unkraut. Woher kommt das Unkraut? Wir versuchen, gut zu sein. Wir halten uns für Christen. Aber wir haben furchtbar schreckliche Gedanken. Wir verletzen genau die Menschen, denen wir auf keinen Fall weh tun wollen. Wir wissen, dass wir mit unserem eigenen Leben Böses in die Welt gebracht haben. Deshalb fühlen wir uns schuldig und es tut uns leid.

Die Arbeiter fragen: «Sollen wir hingehen und das Unkraut ausreissen?» Jesus gibt eine höchst erstaunliche Antwort – eine Antwort, die sich stark unterscheidet von allem, was wir üblicherweise von Moralisten oder bekennenden Christen zu hören bekommen. Jesus sagt: «Nein, sonst könntet ihr aus Versehen den Weizen mit ausreissen.»

 

Sehr vieles, das ich zuerst als Unkraut hielt, als ich mich auf den Weg machte, hat sich als mein Weizen entpuppt. Und vieles, was ich ganz sicher für meine grössten Tugenden hielt – meinen besten Weizen -, hat sich als mein Unkraut entpuppt – als die Dämonen, die mich plagen.

 

Der Feind hat nur Erfolg, wenn er sich verkleidet. Die Engel der Finsternis müssen sich als Engel des Lichts verkleiden.

 

Der blinde Fleck: Ehrgeiz um Beispiel, Habsucht, Machtsucht, Eitelkeit und Götzendienst sind weit verbreitet im Leben von kirchlichen Mitarbeitern und Gemeindegliedern – ohne dass wir es für nötig halten, und dafür zu rechtfertigen oder zu schämen.

 

Die Priester wurden gewarnt, mit einer Frau ins Bett zu gehen, aber warum hat uns nie jemand davor gewarnt, mit dem Ehrgeiz ins Bett zu gehen? Oder mit dem Geld ins Bett zu gehen? Aus irgendeinem Grund haben wir diese Dämonen nicht erkannt.

 

Die wahre Herausforderung für geistliche Leiter ist- wie man mit dem Gemisch von Finsternis und Licht zurecht kommt.

 

C.G. Jung beschreibt die versteckte Finsternis in uns als «Schatten». Der Schatten an sich ist nichts Böses. Aber in unserem Leben ereignet sich oft gerade dann etwas Böses, wenn wir unseres Schattens nicht bewusst sind. Die grösste Gefahr ist es, an sich selbst nichts Böses wahrzunehmen.

Das, was wir unterdrücken oder ins Unbewusste abdrängen, ist genau das, was am meisten Macht über uns ausübt.

 

Eines der Symptome dafür, dass jemand einen starken, gut versteckten Schatten besitzt, ist der absolute Mangel an Humor. Ein Mensch mit einem grossen, verdrängten Schatten ist normalerweise streng und moralistisch.

 

Wir glauben – fälschlicherweise -, dass Gott nur etwas Vollkommenes lieben kann. Was wäre das für ein kleiner und schwacher Gott! Die Sünde, die Gebrochenheit und die Unversöhnlichkeit, die wir in uns selbst nicht akzeptieren können, verabscheuen wir bei anderen. Wir projizieren auf andere (Sündenbockmechanismus).

 

Wir kommen nicht darum herum, uns selbst kennen zu lernen. Wir brauchen über ein spirituelles Leben oder die Erkenntnis Gottes gar nicht zu reden, wenn wir keine Selbsterkenntnis haben.

 

Wir müssen zur Wahrheit dessen, was Jesus gelehrt hat, zurückfinden: dass wir zu Gott kommen durch unsere Unvollkommenheit, ja durch unsere Wunden.

 

Ist nicht genau das die Botschaft des Gekreuzigten? Wenn wir damit leben können, dann sind wir frei. Dann sind wir wahrhaft arme Menschen, die nichts mehr zu beschützen haben, die keine Illusionen vor sich selbst und vor anderen aufrechterhalten müssen. Dann sind wir frei, uns in dieser Welt zu bewegen und uns an dem Guten in ihr zu erfreuen. Wir sind frei anzunehmen, was vor uns liegt, und wir brauchen es nicht zu verändern oder zu kontrollieren. Nicht was sein sollte, was sein könnte, was sein müsste, sondern das, was ist. Diese Annahme dessen, was ist, führt uns in die vollkommene Liebe. Was für eine Erleichterung, wenn wir endlich den Zwang loslassen können, uns zu rechtfertigen und anderen die Schuld zu geben.

 

Unvollkommenheit ist gut genug. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Fleisch sind, dass wir alle in einem Boot sitzen und unter unseren Kleidern alle nackt und menschlich sind. Wir sündigen in erster Linie nicht deshalb, weil wir schwach sind, sondern weil wir Menschen sind. Mensch sein heisst, unvollkommen zu sein, heisst im Prozess sein. Deshalb würde ich gereiftes Christsein definieren als die Fähigkeit, in einer unvollkommenen Welt freudig zu leben. Wir haben keine andere Welt.

Das Böse und die Sünde sind real und sie tun weh, aber sie geben nicht den Ausschlag. Um uns das beizubringen, ist Christus gekommen. Ich verleugne nicht die Realität dieser Welt, der menschlichen Schwäche und des Teufels. Sie sind real, aber sie sind nicht grundlegend oder endgültig. Das führt uns zu dem, was endgültig ist.

Keine Sackgasse! Die Auferstehung ist uns gegeben als das letzte Kapitel der Geschichte. Sie steht in der Mitte der Bibel, um uns Hoffnung zu geben. Das Kreuz führt immer zur Auferstehung.

 

 Es ist, als ob die Kreuzigung als eine grosse kosmische Lektion aufgerichtet hätte, um uns zu sagen: «Ich weiss, was ihr durchmacht, wo ihr drin steckt. Lauft nicht weg. Lernt davon, so wie ich. Hängt eine Weile da, so wie ich. Es wird euer Lehrer sein.» Es geht nicht darum, das Leben zu verlieren, sondern es zu gewinnen. Der Weg geht mitten da hindurch.

 

Die Gnade führt uns zu einer erstaunlichen und verblüffenden Erkenntnis: «In meinem Leben geht es nicht um mich.» Denken Sie den Rest ihrer Jahre daran. In meinem Leben geht es nicht um mich – dies ist die grosse, erlösende Offenbarung, die aus dem Wirbelsturm kommen, und wir sind niemals bereit für sie.

 

Wenn wir das Leiden freudig ertragen, hilft es auch den anderen. Erlösendes Leiden ist ein radikaler Ruf zu einem tieferen Leben und einem tieferen Glauben, der nicht nur das Selbst, sondern auch andere berührt und bewegt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns dieser Tatsache spätestens um die Lebensmitte herum bewusst werden. Wir alle werden älter, und es wird der Tag kommen, da jedem Menschen Leid auferlegt wird.

 

Es wird die Zeit kommen, wenn – hoffentlich – das Leben Christi in uns so triumphiert, dass wir uns mehr um andere kümmern kommen als um uns selbst.

 

Wir sollten um die Gnade beten, unser Leid tragen zu können, wann und es uns auch trifft, so wie Christus sein Leid für uns getragen hat. Wir sind eine Fortsetzung der Menschwerdung, eine Fortsetzung der Passion und Auferstehung – wir führen das ganze Leben Christi weiter.

 

Ich weiss nicht, wie wir irgendeinem Menschen zeigen können, dass wir ihn lieben, wenn wir uns nicht für ihn opfern (sarcifice – sacrum facere – heilig machen). Ich bin überzeugt davon, dass Leiden heisst, an der Passion Gottes teilzuhaben. Das heisst teilhaben an dem, was Gott um der Liebe und der Einheit willen auf sich nimmt. Ich glaube – wenn ich denn Jesus glaube -, dass Gott leidende Liebe ist. Wenn wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, und wenn es in der Welt so viel Leiden gibt, dass muss Gott ebenfalls leiden.

 

Der Faktor der Verletzlichkeit führt uns über uns selbst hinaus. Die meisten Menschen werden dann aus der Beschäftigung mit sich selbst gerissen und fühlen den Drang, zu helfen, wenn ihnen echtes Leiden begegnet. Ich denke, wir eilen nicht nur zu dem Kind, dass sich weh getan hat, wir eilen zu Gott. Zu dem leidenden Gott. Mit anderen und für andere zu leiden, scheint der einzige Weg zu sein, auf dem wir erkennen, dass es in unserem Leben nicht um uns geht.

 

Hiob – wie auch Jesus – sagt letztlich, dass Wahrheit eine Person ist, eine Begegnung, weit entfernt von einem Konzept, das man begründen und über das man streiten kann. Alle unsere üblichen religiösen Antworten rufen nach seinem Urteil den Zorn Gottes hervor, der uns zuruft: «Denn ihr habt nicht die Wahrheit über mich gesagt.»

 

Bild:

Kreuzigung und Auferstehung, im Memoriam Ostap Loziskij

 

Glaube und Kunst - In memoriam Ostap Lozinski - Blog Max Hartmann (max-hartmann.ch)

 

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