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Warum habt ihr die Wahrheit Gottes vergessen?

Warum habt ihr die Wahrheit Gottes vergessen?

09. FEBRUAR 2023. : HINTERGRUND

NOK (Nachrichten Östliche Kirchen)

 

Diese Ansprache ist unerhört eindrücklich in ihrem Mut, ihrer Offenheit und Wahrheit. Gerade in schwierigen Zeiten brauchen wir Christen, die Rückgrat zeigen und das Evangelium nicht verraten.

 

Es ist eine Ermutigung auch für uns westliche Christen. Wagen wir deutliche Worte? Oder wollen wir bequem uns einfach anpassen und sagen, was erwartet wird und ja nicht anecken?

 

Die Hervorstreichungen stammen von mir.

 

 

Offener Brief an die Bischöfe der Russischen Orthodoxen Kirche

 

Eure Eminenzen!

 

Mein Brief richtet sich an die orthodoxen Bischöfe in Russland. Mit Absicht werde ich keine Unterschriften sammeln oder irgendwelche kirchlichen Strukturen oder gesellschaftliche Organisationen auf meine Initiative aufmerksam machen, denn ich wende mich nicht an eine bischöfliche Körperschaft, nicht an die Leitung des Moskauer Patriarchats, sondern an jeden von Ihnen persönlich. Adressat meines Briefes ist ein orthodoxer Christ, der das heilige Tauf- und Mönchsgelübde abgelegt hat, zu Bischofswürde erhoben wurde und von Herzen anerkennt, dass man die Kirche nicht leiten kann ohne Christus zu lieben, Seine Wahrheit zu suchen, Ihm zu dienen, und nicht dem Kaiser.

 

Ich bitte nicht wie sonst üblich erst um euren Segen, das wäre ein Misston gleich zu Beginn dieser Aussprache. Meine Worte können eurerseits auf Ablehnung stoßen, Ärger oder sogar Zorn auslösen. Insofern hege ich wenig Hoffnung, dass ihr dieses Gespräch aufrichtig segnen würdet, und eine rituelle Segnung als Demonstration bischöflicher Macht bedeutet nicht viel. Wenn ihr findet, dass diese Aussprache von Bedeutung ist, dann betet einfach für mich und schreibt mir auch nur wenige Zeilen zur Antwort. Auch ich bete für euch, obwohl dies heute schwerfällt und schmerzt.

 

Doch ich glaube fest, dass es eine Segnung dieser Aussprache von oben gibt, und dass wir aufgerufen sind, das eine zu sagen, „was notwendig ist“ (Lk 10,42), und über unseren Glauben, über diese Liebe zu Christus zu sprechen, die ohne die Beachtung Seines Gebotes undenkbar ist: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten“ (Jh 14,23).

 

Es ist kein Geheimnis, dass euer Bischofsdienst zeitlich begrenzt ist. Auf das Ewige bezieht sich die Liebe zu Christus, das Bestreben, Seinem Wort zu folgen, Ihm treu und dankbar in Freude und Kummer zu sein. Ins Grab könnt ihr Brokatgewänder und eine wertvolle Panagia legen, doch Amtswürde und Titel könnt ihr nicht mitnehmen. Darüber hinaus könnt ihr euch beim Jüngsten Gericht nicht hinter eurer Amtswürde und eurem Titel verstecken.

 

Erschöpft vom quälend langen Warten auf euer wahrhaftiges Hirtenwort, von eurem endlosen Schweigen in Bezug auf das Wichtige, wende ich mich an euch. Und bitte versteht, dass ich die nun folgenden Worte aus einer Position der Schwäche und der Ohnmacht sage und nicht mit Kraft und vollkommener Selbstsicherheit.

 

Ich verstehe gut, dass die Bischöfe der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) eine große und vielschichtige Gemeinschaft bilden. Viele von euch kenne ich seit langem persönlich, wir haben zusammen gebetet und gearbeitet. Es gab Zeiten, in denen wir vertrauensvoll miteinander reden konnten. Es gab Zeiten, da wir aufeinander hörten und uns verstanden haben. Oder war das eine Illusion?

 

Jetzt, seitdem Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt, verstehe ich euch definitiv nicht mehr. Ich höre aus euren Mündern nur noch Schablonen der Staatspropaganda, die in fromme Worte der kirchlichen Predigt und zweifelhafte theologische Formeln verpackt sind, die euch und eure Herde weg vom Evangelium und hin zu einem imperialen heidnischen Kult führen, in dessen sakralem Zentrum Macht, Reichtum und Gewalt stehen.

 

Ich denke, dass ihr Mitschuld tragt. Ich sehe, dass viele von euch das bewusst gewählt haben. Vielleicht habt ihr Angst vor dem Patriarchen, der davon träumte zum kirchlichen Doppelgänger Putins zu werden, zum alleinigen Regenten der ROK, und der dieses Ziel durchaus erfolgreich erreicht hat. Herzlosigkeit, List, Grausamkeit, Lüge – ich denke, ihr wart nicht nur einmal Zeugen davon, wie Patriarch Kirill diese Qualitäten in herausragendem Maße demonstrierte. Vielleicht habt ihr Angst vor den Sicherheitsdiensten. Ihr wisst, wie das Machtsystem in Russland funktioniert und wie gefährlich es ist, sich den Sicherheitsdiensten zu widersetzen. Sicher kommen ihre Mitarbeiter regelmäßig bei euch vorbei, um mit euch zu reden und euch zu instruieren. Kurz, ihr versteht bestens, dass jegliche abweichende Meinung in Russland strafbar ist, und wahrscheinlich haben viele von euch bereits mehrmals Geistliche bestraft, die es sich erlaubt haben, unabhängig zu denken, mit dem offiziell vorgeschriebenen Weltbild nicht einverstanden zu sein, ihm zu widersprechen und nicht zu schweigen. Das Moskauer Patriarchat verlangt von seinen Klerikern schon lange vollkommene und bedingungslose ideologische Loyalität. Diese erstickende Atmosphäre wurde zur Visitenkarte der ROK. Seltene Ausnahmen bestätigen bloß die Regel.

 

So hätte man noch weitere Jahrzehnte verbringen können, doch dann kam der Krieg. Und jetzt, ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffs, muss man es direkt aussprechen: Patriarch Kirill ist der erste unter denjenigen, die Kriegsverbrechen rechtfertigen. In seinen Predigten verkündet er eine „Theologie des Krieges“, verwendet Argumente, deren Widerspruch zum Evangelium und zur Lehre der Kirche zum Himmel schreien. Ich werde nicht im Detail darüber sprechen. Ihr wisst das nur gut zu und wahrscheinlich wiederholt ihr es in euren Predigten selbst regelmäßig.

 

Doch lasst uns mutig sein und in die Zukunft blicken. Die Jahre von Patriarch Kirills (Gundjaev) Regentschaft sind eine dunkle Seite in der Kirchengeschichte. Die kirchliche Wiedergeburt ist auf der Strecke geblieben, und heute bilden nicht mehr durch Gottes Gnade gerettete Sünder die Kirche, sondern verbitterte Festungsbauer, die einen Cocktail aus imperialen Mythen, Ressentiments und einer unvorstellbar primitiven Eschatologie mixen.

 

All das wäre schrecklich genug, doch auf zahlreichen Fotos steht ihr immer noch neben dem Patriarchen: ihr lächelt, nehmt seinen Segen entgegen, schenkt ihm Blumen und teure Geschenke. Noch einmal: Ihr steht neben einem Menschen, der Kriegsverbrechen rechtfertigt und die Kirche verraten hat. Ihr wiederholt seine Worte und seine verbrecherischen Argumente. Und selbst wenn ihr schweigt – kann dieses Schweigen uns zweifeln lassen, dass ihr auf seiner Seite steht? Kann euer Schweigen als versuchter Widerstand gedeutet werden? Der blutige Krieg verbaut euch diese Chance.

 

Wir kennen die Worte von Johannes des Theologen: „Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht“ ( 1 Joh 4,18). Ihr habt immer noch die Chance, Zeugen und Jünger Christi zu sein, der unschuldig verurteilt wurde, litt und gekreuzigt wurde. Ich bete, dass wenigstens einige von euch die Chance nutzen, um zu euren Gelübden zurückzukehren, die ihr bei der heiligen Taufe und bei der Annahme des Mönchtums abgelegt habt.

 

Ich erinnere mich, wie gefährlich es vor relativ kurzer Zeit, Ende der 1980er Jahre war, über die Neumärtyrer sprechen, und nur die mutigsten und furchtlosesten Prediger wagten es, vom Altar herab an sie zu erinnern. Doch bereits Anfang der 1990er Jahre wurde dieses ideologische Tabu aufgehoben. Sicher habt auch ihr oft über die Neumärtyrer gepredigt, ihren Kraftakt des Glaubens als Vorbild dargestellt und Inspiration daraus geschöpft. Und jetzt sagt mir: Waren das nur Worte, die nichts mit euren Taten zu tun haben? Wenn ja, dann war eure Predigt heuchlerisch und falsch. Ich wünschte, ich würde mich irren.

 

Ich bin mir dessen bewusst, dass ich mich selbst in einer schwachen und anfechtbaren Situation befinde. Der Vorwurf, den man mir machen könnte, ist offensichtlich: „Du hast Russland verlassen, du bist jetzt in Sicherheit. Hast du also das moralische Recht, diese Vorwürfe an uns zu richten?“ Mehrfach wurde dieses Argument mit einer einzigen Absicht verwendet: den Ankläger zum Schweigen zu bringen. Nichtsdestotrotz werde ich versuchen zu antworten.

 

Erstens habe ich in den letzten zehn Jahren in Russland über dasselbe gesprochen. Ich habe gesprochen und werde sprechen, weil für mich die Worte über derjenigen, „die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6) keine leeren Worte sind. Die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit ist notwendig. Der Wunsch, sich mit Propaganda oder frommem Geschwätz von der Wahrheit abzugrenzen, führt ins Verderben. Die heutigen Kommunikationsmittel erlauben es besser als je zuvor, die Welt genauer zu sehen und das Wort der Wahrheit lauter zu sprechen. Diese Möglichkeit kann man uns nicht mehr nehmen.

 

Zweitens, wer hindert euch daran, auch auszureisen? Wenn ihr nicht einverstanden seid, wenn ihr die Risiken und Bedrohungen seht, die mit einem freien Ausdrücken eurer Position zusammenhängen, dann reist aus, wie es hunderttausende Bürgerinnen und Bürger Russlands getan haben. Viele unter ihnen sind orthodox, sie brauchen Priester und Bischöfe. Sie erwarten eine freie Predigt, warten auf geistliche Unterstützung. Erinnert euch daran, dass nach der Oktoberrevolution dutzende Bischöfe Russland verlassen haben und die Kirchen des russischen Auslands gegründet haben. Gegenwärtig hat das noch kein einziger getan. Das sagt viel über den Zustand der Kirche aus. Ja, eine Ausreise ist immer ein großes Risiko, doch kann man sich nicht vorstellen, dass die lokalen Kirchen euch verjagen würden, auch wenn weit nicht alle von ihnen euren Beschluss mit Respekt und Achtung akzeptieren würden. Es ist schmerzhaft sich einzugestehen, dass sich einige der orthodoxen Kirchen mit der aggressiven antiwestlichen Rhetorik von Patriarch Kirill solidarisch zeigen und sie unterstützen.

 

Drittens hoffe ich darauf zurückzukehren. Ich hoffe, dass die orthodoxen Christen in Russland die Möglichkeit haben werden, eine freie Kirche in einem freien Russland aufzubauen. Die große Frage ist, welche Rolle dem heutigen Episkopat zukommen wird? Sie verlieren momentan schlicht ihre Autorität und das Vertrauen. Ihr müsst zugeben, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die neue freie Kirche solche Bischöfe schlicht nicht braucht.

 

Die großen Hoffnungen des Hl. Sophroni (Sacharov) von Essex gingen nicht in Erfüllung. Er sprach davon, dass die „Russische Kirche in ihren Leiden für den Namen Christi eine außergewöhnliche Hingabe ihrer selbst erfuhr“, und deshalb „steht die Russische Kirche vor der Frage der Vollkommenheit, die aus dem ewigen geistigen Gesetz hervorgeht: Die Fülle der Hingabe bereitet die Fülle der Vollkommenheit vor.“

 

Doch kam nach der Hingabe keine Epoche der Vervollkommnung, sondern eine Epoche der satten Selbstzufriedenheit, des materiellen Wohlergehens und des Reichtums, eine Epoche der Herzlosigkeit, Heuchelei und Machtgier. Heute befindet sich die Russische Kirche weiter von Christus entfernt, als sich das je jemand hätte vorstellen können.

 

Eure Eminenzen! Das schändliche, katastrophale Schweigen der Mehrheit von euch während dieses grausamen und ungerechten Kriegs Russlands gegen die Ukraine hat der ganzen Russischen Orthodoxen Kirche einen unauslöschlichen Schandfleck aufgedrückt. Lässt sich euer Verhältnis zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche und zu Metropolit Onufrij persönlich anders als Verrat bezeichnet? Ihr habt einen bedeutsamen Teil eurer eigenen Kirche verraten und sie der Spaltung preisgegeben. Ihr habt Onufrij nicht geglaubt und habt des Patriarchen Lüge als Wahrheit angenommen. Als die russische Regierung begann, kirchliche Argumente für ihre Propaganda zu verwenden, kam euer Schweigen der Ukrainischen Kirche teuer zu stehen: Der Druck seitens des ukrainischen Staats und eines bedeutenden Teils der ukrainischen Gesellschaft war eine gesetzmäßige Reaktion auf die aktive Rolle von Patriarch Kirill und der ROK bei der Rechtfertigung der Aggression.

 

Die Verantwortung tragen – wenn auch nicht in gleichem Maße – nicht nur diejenigen, die die russische Aggression öffentlich unterstützt, sondern auch diejenigen, die geschwiegen haben. Der gegenwärtige russische Staat will, dass nicht nur Wirtschaft, Bildung und Kultur einen Kriegskurs einschlagen. Die Kirche, die in den vergangenen Jahren wie ein treuer Hund zu Füßen der Staatsregierung herumwedelte, muss jetzt auch diesem schrecklichen Krieg dienen.

 

Ich flehe euch an: Widersteht aktiv der Lüge und Unwahrheit!

 

Hört auf, den Krieg zu unterstützen und zu rechtfertigen!

 

Hört auf, Soldaten und Waffen zu segnen!

 

Gebt klar zu verstehen, dass Kriegsverbrecher nicht ohne Buße über die Schwelle der Kirche treten, geschweige denn die Kommunion empfangen können!

 

Ruft alle zum gerechten Frieden auf!

 

Die Russische Kirche muss neu lernen über Wahrheit, Mitleid, echte Friedensbildung, einen gerechten Frieden zu sprechen. Die Russische Kirche muss das Leiden der friedlichen Bevölkerung der Ukraine sowie die Verbrechen sehen, welche die russischen Streitkräfte auf den okkupierten Gebieten begangen haben. Sie muss sie nicht nur sehen, sondern auch anerkennen, begreifen und die Kraft finden, ihre Mittäterschaft zu bereuen. Ohne dies haben wir keine Zukunft.

 

Gerechtigkeit üben und Recht ist dem Herrn lieber als Schlachtopfer (Spr 21,3).

 

Denkt darüber nach, dass eure gegenwärtigen Opfer dem Herrn nicht gefallen könnten!

 

Denkt darüber nach, dass in euren Gebeten heute keine Wahrheit ist!

 

Und wem ihr letztlich dient? Und darüber , wer euch so, wie ihr jetzt handelt, braucht?

 

Sergej Chapnin, 23. Januar 2023,

Synaxis der neuen Märtyrer und Bekenner des 20. Jahrhunderts

Erstpublikation: https://publicorthodoxy.org/2023/02/06/open-letter-russian-bishops/

 

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.

 

 

Grigori Ohanov: "Gewalt und Macht sind ihre wichtigsten Werte"

 

Grigori Ohanov ist der ehemalige Vorsitzende der Kerigma-Vereinigung der orthodoxen Jugendgemeinden von St. Petersburg. Er bleibt in Russland und hört nicht auf, über Menschlichkeit und Barmherzigkeit zu sprechen.

 

Menschen, die mit dem Verlauf der "Sonderaktion" unzufrieden sind, versuchen, ihn zu einem "Ersatzopfer" zu machen und drängen darauf, Denunziationen über ihn zu schreiben. Aber Grigorij ist nicht beleidigt, denn vor acht Jahren hielt er sich für einen Putinisten. Er ist sich sicher, dass es notwendig ist, diejenigen, die Gewalt nicht akzeptieren, weiterhin zu unterstützen und zu vereinen.

 

Grigorij Ohanow sprach über die Haltung der orthodoxen Kirche zum Krieg, zu Satanisten und zu traditionellen Werten im Projekt der Zeugen Jehovas.  Die wichtigsten traditionellen Werte, an denen sie interessiert sind, sind Gewalt und Macht. Und Geld. Alles basiert auf Lügen.

 

Nun, es ist wahrscheinlich ein Krieg gegen Satanisten, nur stehen die Satanisten eindeutig auf der falschen Seite, auf dieser Seite.

 

Was Russland jetzt tut, richtet sich gegen Christus. Der Krieg gegen bestimmte westliche Werte ist ein Krieg gegen Christus, weil die westlichen Werte auf dem Evangelium beruhen. 

 

Erzählen Sie uns von sich: Ich bin ein Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche. Ich arbeite in einer Gemeinde und bin seit vielen Jahren in der Jugendarbeit tätig. Ich war etwa drei Jahre lang Leiter der größten orthodoxen Jugendorganisation in St. Petersburg, habe sie aber im Oktober aufgrund einer Reihe von Ereignissen verlassen. 

 

Was waren Ihre ersten Gedanken und Gefühle am 24. Februar?  - Ich habe nicht geglaubt, dass es so kommen würde. Aber zur gleichen Zeit, als wir in der Familie darüber diskutierten, dass ein Krieg ausbrechen könnte, wachte ich jeden Morgen auf und machte einen "Doomscroll", ich checkte die sozialen Medien, ich checkte Meduza. Es gab einen Moment im Februar, als die Unabhängigkeit der beiden Republiken anerkannt wurde. Ich dachte, das war's, wir können uns entspannen, wir sind mit wenig Blut davongekommen. Aber dann, am 24. Februar, schlug ich die "Medusa" auf, und da stand geschrieben: "Krieg".

 

Und das war natürlich ein Schock für mich! So einen Schock habe ich nur erlebt, als ich vom Tod meiner nahen Verwandten erfuhr. Ich zitterte am ganzen Körper, und es schien mir, als ob Raketen aus dem Fenster fliegen würden und die ganze Welt zusammenbrechen würde. 

 

Die Jugendaktivisten in unserer Organisation und ich trafen uns Ende Februar und fingen an, darüber zu reden, was vor sich ging. Ich weiß, dass es in manchen Organisationen nicht üblich ist, darüber zu sprechen, zumindest nicht in der Kirche, in manchen Gemeinden. Denn man denkt, wenn wir darüber reden, gibt es einen Konflikt, und alle werden sich streiten und gehen. Aber unsere Erfahrung hat gezeigt, dass es im Gegenteil immer noch Konflikte geben wird, aber es ist wichtig, sich mit Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu treffen und zu diskutieren, wie sie sich fühlen, wie sie die Ereignisse wahrnehmen. Und so haben wir dann darüber diskutiert und uns darauf geeinigt, dass wir unterschiedliche Meinungen haben, manche "dafür" und manche "dagegen", aber wir sind zusammen.

 

Uns verbindet etwas Tieferes, Höheres, und wir können das, was wir bisher getan haben, gemeinsam fortsetzen. Und wir hatten sogar eine Friedenstaube als Emblem auf der Frühjahrsveranstaltung, und sie hat sich durchgesetzt, obwohl wir sie auf einer Regierungsplattform abhielten. Es gab keine Beschwerden, denn die Friedenstaube ist ein Symbol für den Heiligen Geist. Und das ist natürlich sehr gut für uns Kirchenleute, denn wir haben im Evangelium viele richtige Worte über Barmherzigkeit, über Menschlichkeit, über Gewaltlosigkeit, und wir können sie zitieren und überall hinschreiben. Und wenn man dieses Plakat nicht auf den Gostiny Dvor bringt, wo wir regelmäßig Mahnwachen gegen den Krieg abhalten, dann funktioniert es im Prinzip. Und es hat bei uns funktioniert, bevor die Mobilisierung begann.

 

Was hat sich seit dem 21. September geändert? - Am 21. September wurde klar, dass es unmöglich war, so weiterzumachen wie bisher. Das Einzige, was ich aus der Position des Leiters einer NRO sagen kann, ist, dass man keine Menschen töten kann, dass man sich nicht daran beteiligen kann, dass man es nicht unterstützen kann, dass man kein Geld für all das sammeln kann. Viele unserer Aktivisten, aus meiner Jugendgruppe, 80 Prozent der Aktiven sind jetzt gegangen, im September, im Oktober. Ich bin sehr froh, dass sie an einem sicheren Ort gelandet sind.

 

Ich habe gemerkt, dass ich das nicht mehr kann. Ich muss weiterhin bei den Leuten sein, sie unterstützen, ihnen helfen, Kontakte in den Ländern zu finden, in die sie ziehen werden. Aber ich kann nicht mehr diese Art von Jugendaktivismus und Outreach-Aktivitäten machen, denn man muss über eine Sache sprechen - man muss darüber sprechen, dass man Menschen nicht töten darf. Und Veranstaltungen mit diesem Thema abzuhalten, ist jetzt unmöglich.

 

Ich habe angefangen, in den sozialen Medien darüber zu schreiben, und das hat verständlicherweise eine große Resonanz ausgelöst. Denn die Leute, die die Operation unterstützen, sind mit dem, was jetzt passiert, nicht zufrieden. Sie müssen ein stellvertretendes Opfer finden. So wurde ich zum Teil zu diesem Opfer.

 

Viele Leute begannen zu schreiben: "Seht her, dieser Mann korrumpiert die jungen Leute, er fördert Werte des Pazifismus und der Humanität, die uns fremd sind. Nicht so, natürlich, aber in dem Sinne, dass ich keine patriotische Haltung verbreite, und es notwendig ist, mich loszuwerden, Denunziationen zu schreiben, je mehr Denunziationen es gibt, desto besser. Und einige Priester haben mitgemacht.

 

Das ist natürlich eine traurige Geschichte, aber ich bin nicht beleidigt, denn ich verstehe, dass sie eine schwere Zeit durchmachen. Vor acht Jahren war ich ein überzeugter Putinist. Ich glaubte, dass Putin ein Demokrat aus Petersburg sei, ein Schüler Sobtschaks, dass man ihm vertrauen könne. Damals habe ich die Annexion der Krim begrüßt, weil ich glaubte, dass die Krimbewohner ihr Einverständnis mit der Zugehörigkeit zu Russland zum Ausdruck gebracht hatten, und in den Republiken Donezk und Lugansk sind sie solche Kämpfer für die Unabhängigkeit. Sie wollen die Ukraine verlassen und einem anderen Staat beitreten, warum nicht.

 

Aber dann begann ich, die Ereignisse genau zu verfolgen, die Gewalt, die sich dort aus dem Nichts entwickelte, und mir wurde klar, dass hier etwas nicht stimmte. Und dann habe ich meine Position überdacht und angefangen, oppositionelle Ansichten zu vertreten.  Alles ist auf Lügen aufgebaut. Als orthodoxer Christ konnte ich das nicht akzeptieren. Lange Zeit dachte ich, dass unsere Regierung angemessen, echt, ehrlich und christlich ist und nicht lügen kann. Es passte einfach nicht in meinen Kopf, wie es möglich ist, Wahlen zu manipulieren. Wie man heute das eine sagen kann und morgen das andere.

 

2014 habe ich das begriffen, und meine Ansichten haben sich stark verändert. Die wichtigsten traditionellen Werte, an denen sie interessiert sind, sind Gewalt und Macht. Und Geld. Sehr traditionelle Werte. Der Rest ist nur ein Vorwand. Mir ist klar geworden, dass ich nicht schweigen kann, aber ich kann auch nicht über meine Position sprechen, weil ich auf diese Weise die Menschen, die mit mir zusammenarbeiten, und meine Organisation, die ziemlich groß ist, einem Schlag aussetze.

 

Warum ist das notwendig?  Ich habe beschlossen, als Vorsitzender des Vereins zurückzutreten.  Wie haben Ihre Freunde und Verwandten auf den Ausbruch des Krieges reagiert?  - Meine Frau und ich teilen die gleiche Position, aber mit ihrer Familie, ihren Eltern, ist es schwieriger, denn sie sind Haushaltsangestellte, sie unterstützen die Regierung. Sie sind also daran gewöhnt. Und einer meiner nahen Verwandten ist bei der Mobilisierung gegangen. Natürlich mache ich mir große Sorgen um ihn, weil er sterben könnte, weil er ein Mörder werden könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich danach mit meinen Kindern darüber sprechen soll, und dass ihre Großeltern das unterstützt haben. Es ist schwer. Ich befürchte, dass unsere Familie in dieser Hinsicht ein wenig aus den Fugen gerät. Nicht in der Beziehung zu meiner Frau, denn wie gesagt, wir stehen auf derselben Seite, sondern in der Beziehung zu den Eltern. 

 

Haben ich versucht, die Menschen in m einemUmfeld umzustimmen?  - Ich habe eher versucht, die Einstellung der Menschen zu dem zu ändern, was schon vor all diesen Ereignissen geschah. Wir haben für Barmherzigkeit, Menschlichkeit, Wahrheit und so weiter geworben. Gleichzeitig haben die Menschen gelernt, kritisch zu denken. Ich glaube, dass viele Menschen dank der Arbeit, die wir zusammen mit meinen Kollegen geleistet haben, eine angemessenere Haltung einnehmen, als sie es getan hätten, wenn sie nicht zu uns gekommen wären.  Wie reagiert Ihrer Beobachtung nach die Gesellschaft auf die Geschehnisse?  - Es gab mehr Spannung und mehr Beteiligung. Diese Geschichte ist persönlich geworden.

 

Wenn es vorher, in den letzten sechs Monaten, den Anschein hatte, dass alles irgendwo in der Ferne geschah und einen nicht betraf, dass es sich um eine spezielle Operation handelte, an der Auftragnehmer - Fachleute - arbeiteten, so ist es jetzt, obwohl es nicht zu einem nationalen Krieg geworden ist, doch etwas, das jeden direkt betrifft.  Wie hat die orthodoxe Gemeinde auf den Krieg reagiert?  - Die orthodoxe Gemeinschaft hat auf unterschiedliche Weise reagiert. Ich finde es sehr erschreckend zu sehen, wie der Patriarch und viele Priester in Russland das Geschehen unterstützen. Sie segnen die Soldaten buchstäblich zum Töten, sie sammeln sogenannte humanitäre Hilfe. In Wirklichkeit sind es nur Uniformen für diejenigen, die in der Ukraine kämpfen. Das ist widerwärtig.

 

Aber es gibt so viele anständige Menschen, die das nicht unterstützen. Einige von ihnen melden sich zu Wort, andere sehen schweigend zu, was vor sich geht. Aber zumindest beteiligen sie sich nicht daran. Und das ist eine sehr anständige Haltung.

 

 Wie verhält sich der orthodoxe Glaube zum Krieg, ist es für einen Gläubigen akzeptabel, in den Krieg zu ziehen?  - Hier gibt es keine einheitliche orthodoxe Position. Aber wir haben in der russisch-orthodoxen Kirche die Grundlagen des sozialen Konzepts, und im Prinzip ist die Hauptströmung, dass es möglich ist zu kämpfen, aber es sollte ein gerechter Verteidigungskrieg sein. Natürlich versuchen die russischen Behörden, das Geschehen als Verteidigungskrieg auszugeben. Aber das sieht sehr seltsam aus, denn wie kann man einen Verteidigungskrieg auf fremdem Territorium führen, wenn der Befehl zum Angriff, so oder so, von einem selbst kommt, und es im Allgemeinen keine Beweise dafür gibt, dass Russland tatsächlich auf einen Angriff vorbereitet wurde. Das ist absurd.

 

Für die Ukraine ist es ein Verteidigungskrieg, glaube ich, und es ist ein gerechter Krieg. Für Russland ist er es nicht.  Was halten Sie von den Äußerungen prominenter Geistlicher, es handele sich um einen Krieg gegen westliche Werte und Satanismus?  - Das mag ein Krieg gegen Satanisten sein, nur stehen die Satanisten eindeutig auf der anderen Seite. Das ist eine widerwärtige Aussage, und die Kirche wird dafür sicher Buße tun müssen. Ich denke, das wird in 50 Jahren der Fall sein, hoffe ich.

 

 Es gibt keine westlichen Werte, es gibt christliche Werte, die im Westen verwirklicht werden, die sich in den Menschenrechten, der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Religionsfreiheit und so weiter ausdrücken. Russland ist ein Teil dieser europäischen, christlichen Zivilisation. Ein Krieg gegen diese westlichen Werte ist ein Krieg gegen Christus, denn die westlichen Werte beruhen auf dem Evangelium. Was Russland jetzt tut, richtet sich gegen Christus. 

 

Warum habe ich Russland nicht verlassen?  - Aus persönlichen Gründen. Meine Großmutter ist in einem ernsten Zustand, sie liegt krank. Obwohl sie jetzt in einer Pension ist, fällt es mir immer noch schwer, sie zu verlassen, denn sie ist meine engste Verwandte, wie es scheint. Aber ich denke immer noch darüber nach, wegzugehen, weil es, wie ich schon sagte, in Russland nur noch sehr wenige Möglichkeiten gibt, das zu tun, was ich früher getan habe. Es geht um soziale Aktivitäten, um Bildung, um Kultur, um Kirche, um alles. Es ist schwer, etwas anderes zu tun als nur zu beten. Vielleicht werde ich also doch gehen. Auf jeden Fall werde ich gehen, wenn ich merke, dass mir hier eine gewisse Zeit bevorsteht. 

 

Wovor habe ich am meisten Angst?  - Ich habe Angst, dass sich nichts ändern wird, dass alles beim Alten bleibt. Der Krieg wird noch zehn Jahre weitergehen. Ich habe Angst, dass Russland keine Reue zeigen wird, so wie Nazi-Deutschland. Der Terror, der rote Terror, der große Terror der dreißiger Jahre ist in Russland nicht bereut worden. Ich fürchte, dass es auch keine Reue für diese Ereignisse geben wird. 

 

Was wird mit Russland und der Ukraine geschehen? - Ich denke, der Ukraine wird es gut gehen. Das hoffe ich, das wünsche ich ihnen. Die Hauptkatastrophe dieses Krieges sind natürlich die Toten, die Verletzten, die Behinderten. Alles andere wird sich erholen, die Wirtschaft, die Städte, alles wird wieder aufgebaut werden. Was Russland betrifft, weiß ich nicht, was passieren wird. Ich hoffe natürlich, dass der Krieg zu Ende geht und es eine Transformation, eine Demokratisierung geben wird. Aber ich erwarte nicht, dass das in naher Zukunft geschieht. Ich denke, in 10 Jahren werden wir eine Chance haben.

 

 

Der russisch-orthodoxe Führer im Zentrum von Putins Ambitionen

Patriarch Kirill I. hat den Einmarsch in die Ukraine geistlich gedeckt und seiner Kirche im Gegenzug enorme Mittel verschafft. Jetzt droht ihm die EU in einem außergewöhnlichen Schritt mit Sanktionen.

 

Jason Horowitz

NEW YORK TIMES

 

Während Russlands Invasion in der Ukraine hatte Patriarch Kirill I., das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, ein unangenehmes Zoom-Treffen mit Papst Franziskus.

 

Die beiden religiösen Führer hatten zuvor zusammengearbeitet, um ein 1000 Jahre altes Schisma zwischen den christlichen Kirchen des Ostens und des Westens zu überbrücken. Doch bei dem Treffen im März standen sie auf entgegengesetzten Seiten einer Kluft. Kirill verbrachte 20 Minuten damit, vorbereitete Bemerkungen zu verlesen, in denen er die Argumente des russischen Präsidenten Wladimir W. Putin wiederholte, dass der Krieg in der Ukraine notwendig gewesen sei, um Nazis zu beseitigen und sich der NATO-Erweiterung entgegenzustellen.

 

Franziskus war sichtlich verblüfft. "Bruder, wir sind keine Staatskleriker", sagte der Pontifex zu Kyrill, wie er später der Zeitung Corriere della Sera erzählte, und fügte hinzu, dass "der Patriarch sich nicht in Putins Messdiener verwandeln kann".

 

Heute unterscheidet sich Kyrill nicht nur von Franziskus, sondern von einem Großteil der Welt. Als Oberhaupt von etwa 100 Millionen Gläubigen hat der 75-jährige Kirill die Geschicke seines Zweigs des orthodoxen Christentums auf ein enges und für beide Seiten vorteilhaftes Bündnis mit Putin gesetzt, indem er ihm geistlichen Schutz bietet, während seine Kirche - und möglicherweise er selbst - im Gegenzug vom Kreml enorme Ressourcen erhält, die es ihm ermöglichen, seinen Einfluss in der orthodoxen Welt auszuweiten.

 

Für seine Kritiker ist Kyrill durch dieses Arrangement weit mehr als ein weiterer Apparatschik, Oligarch oder Erfüllungsgehilfe Putins, sondern ein wesentlicher Teil der nationalistischen Ideologie, die den expansionistischen Plänen des Kremls zugrunde liegt.

 

Kirill hat Putins lange Amtszeit als "ein Wunder Gottes" bezeichnet und den Krieg als gerechte Verteidigung gegen liberale Verschwörungen bezeichnet, die die Ukraine mit "Schwulenparaden" unterwandern wollten.

 

"Unser ganzes Volk muss heute aufwachen - aufwachen - verstehen, dass eine besondere Zeit gekommen ist, von der das historische Schicksal unseres Volkes abhängen kann", sagte er in einer Predigt im April. "Wir sind im Laufe unserer Geschichte dazu erzogen worden, unser Vaterland zu lieben, und wir werden bereit sein, es zu schützen, denn nur Russen können ihr Land verteidigen", sagte er in einer anderen Predigt zu den Soldaten.

 

Kirills Rolle ist so wichtig, dass europäische Beamte ihn auf eine Liste von Personen gesetzt haben, die sie in einer bevorstehenden - und noch im Fluss befindlichen - Runde von Sanktionen gegen Russland ins Visier nehmen wollen, wie Personen, die die Liste gesehen haben, berichten.

 

Eine solche Zensur wäre eine außergewöhnliche Maßnahme gegen ein religiöses Oberhaupt, die sich vielleicht am ehesten mit den Sanktionen vergleichen lässt, die die Vereinigten Staaten gegen den Obersten Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, verhängt haben.

 

Seit mehr als einem Jahrzehnt argumentieren Kyrills Kritiker, dass seine prägenden Erfahrungen mit religiöser Unterdrückung während der Sowjetära ihn auf tragische Weise in die ermächtigende und letztlich unausweichliche Umarmung Putins geführt und die russisch-orthodoxe Kirche unter Kyrills Führung in einen korrumpierten geistlichen Zweig eines autoritären Staates verwandelt hätten.

 

Auch wenn die Sanktionen innerhalb Russlands und seiner Kirche wahrscheinlich nur als weiterer Beweis für die Feindseligkeit des gottlosen Westens angesehen werden, haben sie doch das Potenzial, einen Finger auf die Waage der sich verschiebenden Machtverhältnisse innerhalb der oft bitter gespaltenen orthodoxen Kirche zu legen.

 

"Das ist neu", sagte Enzo Bianchi, ein katholischer Laienmönch, der Kirill in den späten 1970er Jahren auf Konferenzen kennenlernte, die er organisierte, um die Versöhnung mit der orthodoxen Kirche zu fördern.

 

Bianchi befürchtete, dass die Verhängung von Sanktionen gegen einen religiösen Führer einen gefährlichen Präzedenzfall für eine "politische Einmischung in die Kirche" schaffen könnte. Dennoch hält er Kirills Bündnis mit Putin für katastrophal.

 

All das hat die Frage aufgeworfen, warum Kirill sich so gründlich mit dem russischen Diktator verbündet hat.

 

Ein Teil der Antwort, sagen enge Beobachter und diejenigen, die Kirill gekannt haben, hat damit zu tun, dass es Putin gelungen ist, den Patriarchen in die Schranken zu weisen, so wie er es mit anderen wichtigen Akteuren im russischen Machtgefüge getan hat. Aber es hat auch mit Kirills eigenen Ambitionen zu tun.

 

Kirill hat in den letzten Jahren danach gestrebt, den Einfluss seiner Kirche auszuweiten, und verfolgte eine Ideologie, die Moskau als "drittes Rom" ansieht, eine Anspielung auf eine Idee aus dem 15. Jahrhundert, in der die orthodoxe Kirche als "Manifest der Hoffnung" bezeichnet wurde und in der Putins Russland zum geistigen Zentrum der wahren Kirche nach Rom und Konstantinopel werden sollte.

 

Es ist ein großartiges Projekt, das sich nahtlos in Putins mystisch gefärbten Imperialismus eines "Russkiy Mir" oder einer größeren russischen Welt einfügt - und ihn inspiriert hat.

 

"Es gelang ihm, Putin, der auf der Suche nach einer konservativen Ideologie war, das Konzept der traditionellen Werte, das Konzept von Russkiy Mir, zu verkaufen", sagte Sergei Chapnin, ein Senior Fellow für orthodoxe christliche Studien an der Fordham University, der mit Kirill im Moskauer Patriarchat zusammenarbeitete.

 

Geboren als Wladimir Michailowitsch Gundjajew am Ende des Zweiten Weltkriegs, wuchs Kirill wie Herr Putin in einer kleinen St. Petersburger Wohnung während der Sowjetära auf. Doch während Putin sich selbst als prügelndes Kind dargestellt hat, entstammt Kirill einer Familie von Kirchenmännern, darunter ein Großvater, der wegen seines Glaubens im Gulag gelitten hat.

 

"Als er zurückkam, sagte er zu mir: 'Hab keine Angst vor irgendetwas außer vor Gott'", sagte Kirill einmal im russischen Staatsfernsehen.

 

Wie praktisch alle russischen Elitekleriker der damaligen Zeit soll Kirill mit dem KGB zusammengearbeitet haben, wo Putin sein frühes Handwerk gelernt hat.

 

Kirill wurde in russisch-orthodoxen Kreisen schnell zu einer wichtigen Persönlichkeit. 1971 vertrat er die Kirche beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, was ihm die Möglichkeit gab, mit westlichen Geistlichen anderer christlicher Konfessionen in Kontakt zu treten.

 

"Er war immer offen für den Dialog", sagte Herr Bianchi, der sich an Kirill als dünnen Mönch erinnert, der an seinen Konferenzen teilnahm.

 

Traditionalisten waren anfangs misstrauisch gegenüber Kirills reformistischem Stil - er hielt megakirchenähnliche Veranstaltungen in Stadien ab und verbreitete seine Botschaft und seine Popularität ab 1994 in einer wöchentlichen Fernsehsendung.

 

Aber es gab auch frühe Anzeichen für einen tiefen Konservatismus. Kirill war zeitweise entsetzt über protestantische Bestrebungen, Frauen zum Priesteramt zuzulassen, und über das, was er als den Gebrauch der Menschenrechte durch den Westen darstellte, um traditionellen Gesellschaften "diktatorisch" die Rechte von Homosexuellen und andere antichristliche Werte aufzuzwingen.

 

Im Jahr 2000, dem Jahr, in dem Putin die Macht in Moskau übernahm, veröffentlichte Kirill einen meist übersehenen Artikel, in dem er die Förderung traditioneller christlicher Werte angesichts des Liberalismus als "eine Frage der Erhaltung unserer nationalen Zivilisation" bezeichnete.

 

Im Dezember 2008, nach dem Tod seines Vorgängers Aleksy II., verbrachte Kirill zwei Monate damit, in den russischen Klöstern, in denen die Flamme der konservativen Lehre brannte, zu touren - Kritiker sagen, er machte Wahlkampf. Das zeigte Wirkung, und 2009 erbte er eine Kirche, die sich inmitten eines postsowjetischen Aufbruchs befand.

 

Kirill hielt eine große Rede, in der er dazu aufrief, die Spaltung von Kirche und Staat durch eine "Symphonie" zu überwinden, bei der sich der Kreml um irdische Belange kümmert und die Kirche sich für das Göttliche interessiert.

 

Ende 2011 schloss er sich der Kritik an gefälschten Parlamentswahlen an, indem er die "rechtmäßige negative Reaktion" auf Korruption verteidigte und sagte, es sei "ein sehr schlechtes Zeichen", wenn der Kreml nicht aufpasse.

 

Bald darauf tauchten in den russischen Medien Berichte über luxuriöse Wohnungen auf, die Kyrill und seiner Familie gehören. Weitere unbestätigte Gerüchte über Milliarden von Dollar auf geheimen Bankkonten, Schweizer Chalets und Jachten kamen auf.

 

Eine Nachrichten-Website grub ein Foto aus dem Jahr 2009 aus, auf dem Kirill eine Uhr des Modells Breguet Réveil du Tsar im Wert von etwa 30 000 Dollar trug, ein Zeichen für die Zugehörigkeit zur russischen Elite.

 

Nachdem seine Kirche versucht hatte, die Uhr zu löschen, und Kyrill bestritt, sie jemals getragen zu haben, veranlasste die verbliebene Reflektion auf einem polierten Tisch eine peinliche Entschuldigung der Kirche.

 

Pfarrer Cyril Hovorun, ein orthodoxer Priester, der ein Jahrzehnt lang persönlicher Assistent von Kyrill war, sagte, dass die Beschädigung des Rufs des Patriarchen von Kyrill als eine Botschaft des Kremls interpretiert wurde, den Staat nicht zu übertreten.

 

Kyrill änderte die Richtung drastisch und gab den Ambitionen Moskaus volle Unterstützung und ideologische Form.

 

"Er erkannte, dass dies eine Chance für die Kirche ist, einzugreifen und dem Kreml Ideen zu liefern", sagte Pater Hovorun, der damals aus Protest zurücktrat. "Der Kreml übernahm plötzlich die Sprache von Kyrill, der Kirche, und begann, über traditionelle Werte zu sprechen" und darüber, wie "die russische Gesellschaft wieder zu Größe aufsteigen muss".

 

Pater Hovorun, heute Professor für Ekklesiologie, internationale Beziehungen und Ökumene am University College Stockholm, sagte, dass Kirill Putins Gerede, er sei gläubig, mit Vorsicht zu genießen habe.

 

"Für ihn ist die Zusammenarbeit mit dem Kreml ein Weg, eine Art Freiheit der Kirche zu schützen", sagte er. "Ironischerweise scheint es jedoch, dass die Kirche unter seiner Amtszeit als Patriarch in eine Situation der Gefangenschaft geraten ist."

 

Die Grenze zwischen Kirche und Staat verwischte immer mehr.

 

Als Mitglieder der feministischen Punkband Pussy Riot 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein "Punk-Gebet" abhielten, um gegen die Verstrickung von Putin und Kyrill zu protestieren, schien Kyrill die Führung zu übernehmen und auf die Inhaftierung der Gruppe zu drängen. Außerdem unterstützte er ausdrücklich die Präsidentschaftskandidatur von Putin.

 

Seine Kirche erhielt Dutzende von Millionen Dollar für den Wiederaufbau von Kirchen und die staatliche Finanzierung religiöser Schulen. Die St. Basilius der Große Stiftung von Konstantin Malofeev, einem Putin nahestehenden russisch-orthodoxen Oligarchen, bezahlte die Renovierung des Moskauer Hauptsitzes der kirchlichen Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen, die Kirill früher leitete.

 

Kyrill hat die Steuern für seine eigenen Kirchen erheblich und ohne jegliche Transparenz erhöht, während sein persönliches Vermögen geheim blieb. Chapnin, der von Kyrill persönlich mit der Leitung des kirchlichen Amtsblattes betraut worden war, begann ihn zu kritisieren und wurde 2015 entlassen.

 

Wie Putins Kreml hat auch Kirills Kirche ihre Muskeln im Ausland spielen lassen und Gelder in die orthodoxen Patriarchate von Jerusalem und Antiochien mit Sitz in Syrien gesteckt. Diese Investitionen haben sich ausgezahlt.

 

In diesem Monat sprach sich das Patriarchat von Antiochien öffentlich gegen Sanktionen gegen Kyrill aus, was den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der Putin wohl am nächsten steht, dazu veranlasste, diese Woche zu versprechen, dass er jegliche Sanktionen gegen Kyrill blockieren werde.

 

Doch für Kyrill ist der Status Moskaus in der orthodoxen Welt vielleicht von größter Bedeutung.

 

Das Große Schisma von 1054 spaltete das Christentum in die westliche Kirche, die dem Papst in Rom treu ist, und die östliche Kirche in Konstantinopel. In den folgenden Jahrhunderten behielt der Patriarch von Konstantinopel mit seinem Sitz im heutigen Istanbul seinen Status als erster unter Gleichen unter den orthodoxen Kirchen des Ostens bei, aber andere gewannen an Einfluss, darunter Moskau.

 

Moskaus Einmarsch in der Ostukraine im Jahr 2014 führte dazu, dass sich die ohnehin schon unglückliche ukrainisch-orthodoxe Kirche von der jahrhundertelangen Zuständigkeit Moskaus trennte, was sie etwa ein Drittel ihrer Gemeinden kostete. Die Anerkennung der ukrainischen Kirche durch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel schürte die Spannungen zwischen Moskau und Konstantinopel.

 

Der interne Kirchenkrieg hat sich auch auf den militärischen ausgeweitet, wobei Moskau den Schutz der orthodoxen Gläubigen in der Ukraine, die Kyrill treu bleiben, als Vorwand für die Invasion benutzt.

 

Putins Krieg und Kyrills Unterstützung für ihn scheinen nun ihr gemeinsames großes Projekt zu beeinträchtigen. Hunderte von Priestern in der Ukraine haben Kyrill der "Ketzerei" beschuldigt. Es drohen Sanktionen der Europäischen Union. Eine Versöhnung mit der westlichen Kirche ist vom Tisch.

 

Dennoch hat Kyrill nicht gezögert und zur öffentlichen Unterstützung des Krieges aufgerufen, damit Russland "seine äußeren und inneren Feinde zurückschlagen kann". Und er lächelte am 9. Mai bei der Parade zum Tag des Sieges in Moskau breit mit anderen Loyalisten aus Putins innerem Kreis.

 

Manche sagen, er habe keine andere Wahl, wenn er überleben wolle.

 

"Es ist eine Art Mafia-Konzept", sagte Chapnin. "Wenn man drin ist, ist man drin. Du kannst nicht raus."

 

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