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Ich wollte meine Selbstachtung nicht verlieren - Myroslaw Marynowytsch in der Universität Zürich

Abend mit Myroslaw Marynowytsch an der Universität Zürich

25. Oktober 2023

 

Foto: von links nach rechts: Max Hartmann, Myroslaw Marynowytsch, Nada Boškovska, Stefan Kube

 

Zum besseren Lesen und Ausdruck finden Sie in PDF am Schluss.

 

Stefan Kube vom ökumenischen Forum Religion und Gesellschaft in Ost und West begrüsst die zahlreich anwesenden Zuhörinnen und Zuhörer. Er ist auch Chefredaktor der Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“.

Nada Boškovska, Professorin und Lehrstuhlinhaberin des Fachbereichs Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Universität Zürich wird Myroslaw Marynowytsch interviewen und Gelegenheit für Fragen geben.

Max Hartmann wird dazwischen Ausschnitte aus der deutschen Übersetzung «Das Universum hinter dem Stacheldraht» der Memoiren von Myroslaw lesen.

 

Einführung Stefan Kube

Myroslaw Marynowytsch ist Vizedirektor der Katholischen Universität in Lwiw, Menschenrechtler und Autor. In seinem Buch führt er uns in die Welt des Straflagers, die er selbst erlebt hat als Strafe für sein Engagement für die Menschenrechte. Wie war es möglich, als freier Mensch zu handeln in einem unfreien Land wie der UdSSR, die dem feindlich gegenüberstand?

 

Diese Frage wirft er in seinen Memoiren auf. Hier ein Zitat aus seinem Buch: „Mein Leben auf dem Weg des Dissidenten führte mich in die mir bisher unbekannte Welt der Lager. Und was habe ich dann mit nach Hause gebracht?“ An diesem Abend wollen deinen Spuren folgen. die du in deinen Memoiren beschrieben hast, Myroslaw. Wie war es möglich, in einem unfreien Land wie der UdSSR wie ein freier Mensch zu handeln?

 

Myroslaw zitiert dazu einen anderen Dissidenten und klassifiziert dessen Engagement als doppelte Reaktion auf die doppelte Natur der UdSSR als totalitärer Staat und als kommunistische Union getarntes russisches Imperium. Für ihn war die ukrainische Dissidentenbewegung zum einen ein Versuch der demokratischen Opposition gegen das totalitäre Regime und zum anderen ein nationaler Befreiungskampf des ukrainischen Volkes.

 

Ich freue mich sehr, Ihnen Myroslaw Myroslaw Marynowytsch vorstellen zu können. Nada Boškovska wird mit ihm später über das soziale und politische Leben in der Sowjetukraine, die Dissidentenkultur, die Anfänge der Helsinki-Bewegung und das System der Gefangenenlager in der UdSSR sprechen. Ich werde nur ganz kurz einige Details aus deinem Leben skizzieren. Myroslaw wurde 1949 in der Westukraine, dem heutigen Oblast Lwiw, geboren.

 

Sein Großvater war ein Priester der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche. Trotzdem bezeichnete sich Myroslaw in seiner Jugend als zeitweiliger Agnostiker. Seine Geburt als Dissident fand 1973 statt, als er einige Blumen vor dem Denkmal von Taras Schewtschenko in Kiew niederlegte. Drei Jahre später, im November 1976, wurde er Gründungsmitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe. Im April 1977 wurde er wegen sogenannter antisowjetischer Agitation und Propaganda verhaftet.

 

Er wurde fast ein Jahr lang verhört. Im März 1978 wurde er zu sieben Jahren Haft im berüchtigten Gefangenenlager Perm 36 und fünf Jahren Exil in Kasachstan verurteilt. 1987 wurde Myroslaw freigelassen und kehrte in die Westukraine zurück.[1991 war er einer der Mitbegründer der ukrainischen Amnesty-Gruppe. Von 1997 bis 2007 war er Direktor des Instituts für Gesellschaft an der Theologischen Akademie Lwiw, das später zur Ukrainischen Katholischen Universität wurde.

 

Bis heute ist er Vizedirektor der Ukrainischen Katholischen Universität. 2010 wurde er Präsident des Ukrainischen Zentrums von PEN- International und ist bis heute dessen Ehrenpräsident. Ich denke, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Myroslaw eine in der Öffentlichkeit breit anerkannte intellektuelle Figur in der Ukraine ist, die ihre Stimme natürlich auch zu Fragen im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erhebt.

 

Es ist vor allem das Verdienst von Max Hartmann, dass wir Myroslaw heute hier in Zürich begrüßen können. Max ist der Herausgeber der deutschen Version von Myroslaw Memoiren und wird uns später mehr über den Veröffentlichungsprozess auf Deutsch erzählen. Max Hartman ist ein ehemaliger reformierter Pfarrer, der sich für das gesellschaftliche Leben hinter dem Eisernen Vorhang interessiert.

 

Erste Lesung

Nach Ausbruch des Grossen Krieges, dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, begann ich mich zu informieren, wie die Medien in Lwiw, der Stadt, die ich aus meinem Besuch 2017 kannte und mich in sie verliebte, berichten. Darauf stiess ich auf die sehr gut gemachte Homepage der Katholischen Universtität und dabei auf den Vizedirektor Myroslaw Marynowytsch. Ich las dort über ihn, dass es die englische Übersetzung seiner Memoiren „The Universe Behind the Barbed Wire“ gibt und las diese. Das Buch hat mich enorm beeindruckt und ich dachte, es müsste gerade jetzt in der Zeit dieses Kriegs eine deutsche Übersetzung geben, die die Geschichte der Ukraine und den Kampf um ihre Unabhängigkeit in ihrer Tiefe verstehen lässt.

 

Ich fand die E-Mail-Adresse von Myroslaw und schrieb ihm mein Feedback und die Idee. Er schrieb mir dann zurück, dass es bereits eine deutsche Übersetzung eines Freundes und Kollegen seiner Studienzeit am Polytechnikum in Lwiw gäbe. Dieser Text müsste allerdings stark sprachlich und stilistisch überarbeitet werden, was ich dann tat, immer wieder auch im Kontakt mit Myroslaw.

 

 

Nun die ersten Worte des Buches:

Meine Geburtsstunde als Dissident erlebte ich in Kyjiw im Kabinett eines Offiziers des KGB. Er leitete die sogenannte »Erste Abteilung« in der Firma »Positron« in Iwano-Frankiwsk und alle Beschäftigten des Werkes standen unter seiner Beobachtung. Ich kam gerade von einer Dienstreise aus Kyjiw zurück, wo ich auf Veranlassung des KGB am 22. Mai 1973 von der Miliz verhaftet worden war, da ich Blumen am Denkmal von Taras Schewtschenko niedergelegt hatte. Für einen KGB-Funktionär aus der Provinz war es ein außergewöhnlicher Fall, der ihn in Form einer dienstlichen Rüge bedrohte. Sein Zögling machte sich strafbar, und dies vor den Augen des KGB der Hauptstadt! Ich erhielt eine heftige Ermahnung. Mir war aber klar, dass die »väterlichen« Ratschläge den erwünschten Effekt verfehlten, als er mich eindringlich warnte: »Bedenken Sie: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.«

 

Ich antwortete schlicht: »Gut, dann bin ich gegen euch.«

 

Ich staune noch heute, dass ich so klare Worte riskierte. Heute wäre von mir wohl eher vorsichtig zu hören: »Einerseits …, andererseits …«

 

Es war für mich eine große Erleichterung wie bei einer Geburt, wenn der erste Schrei des Kindes verheißt, dass die Wehen der Geburt überstanden sind. Alle, die eine ähnliche Befreiung von Angst erlebt haben, begreifen, wie sehr die Seele aufatmet, wenn sie von der Last der Ungewissheit befreit wird.

 

Ich werde es bis zu meinem Lebensende nicht fertigbringen, alle Züge eines Homo sovieticus aus mir herauszupressen: Ein Mensch behält sein »angeborenes Trauma« möglicherweise für immer. Gleichzeitig bin ich Gott dankbar, dass an diesem für mich so wichtigen Tag aus dem ideologischen Kokon eines »Sowjetmenschen« ein aktives Leben als Dissident und Andersdenkender begann.

 

Gespräch Nada Boškovska mit Myroslaw Marynowytsch

Danke, dass du hier bei uns bist, dass du gekommen bist, um mit uns über dein Buch zu sprechen, das ins Deutsche übersetzt worden ist. Es ist 2016 zuerst in der Ukraine erschienen, wenn ich richtig liege. Vielleicht zuerst ein paar Worte über die Helsinki-Komitees und wie es dazu kam, dass diese Komitees gegründet wurden. Du wurdest 1977 ja als Mitbegründer des Helsinki-Komitees verhaftet.

 

Deshalb möchte ich zuerst ein paar Worte über die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sagen, die sehr wichtig war, denn diese Konferenz führte zur Gründung all dieser Komitees.

 

Die Konferenz war entscheidend für die spätere Entwicklung in Osteuropa und sogar für den Zusammenbruch des sozialistischen Systems. Die Ironie dabei ist, dass es ursprünglich Osteuropa war, dass diese Staaten bereits 1967 eine solche Konferenz vorgeschlagen hatten. Als die Idee bereits auf der Totenhalde gelandet war, kam sie tatsächlich nach ein paar Jahren zustande. Am 3. Juli 1973 wurde die Konferenz in Helsinki eröffnet. Alle europäischen Staaten, [...] mit Ausnahme von Albanien, nahmen an dieser Konferenz teil und auch die Nachbarstaaten Osteuropas, die USA und Kanada.

 

Die Konferenz war nicht eine einzige Konferenz. Es war eine ganze Reihe von Konferenzen. Und am Ende fanden zwei Jahre lang Verhandlungen in Genf statt. Die Schlussakte wurde am 1. August 1975 in Helsinki unterzeichnet. Sie war eine Absichtserklärung. Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich darin zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.

 

Worum geht es denn? Wichtig für uns und für die osteuropäischen Staaten war die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. So verpflichteten sich die osteuropäischen Staaten, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten, und auch die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Umwelt wurde vereinbart. Die Helsinki-Panel-Akte ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine selbstverpflichtende Erklärung des Staates. Das Ziel war es, Ost und West in Europa zu einem geordneten Zusammenleben zu verhelfen.

 

Später stellte sich heraus, dass das Abkommen über die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Glaubensfreiheit, für die osteuropäischen Staaten sehr wichtig wurde. Da diese Staaten, einschließlich der Sowjetunion, die Erklärung unterzeichnet hatten, konnten sich ihre Bürgerinnen und Bürger darauf berufen, dass sich ihre Staaten zu dieser Grundfreiheit bekannt hatten. Das war also ein Argument, mit dem die Bürger kommen konnten. Zahlreiche Gruppen wurden gegründet, auch in der Sowjetunion, und darunter die  ukrainische Gruppe, die du, Myroslaw mitgegründet hast. Daher meine erste Frage an dich:

Kannst du uns von den Anfängen eurer Menschenrechtsgruppe erzählen? [...] Was waren die  konkreten Gründe, sie überhaupt zu gründen und wie hat sie funktioniert? Wie habt ihr gearbeitet?

 

Ich danke dir. Guten Abend allen. Lass mich die Beantwortung deiner Frage für ein paar Minuten verschieben, um diese Gelegenheit zu nutzen, um mit meiner Dankbarkeit zu beginnen. Zuallererst möchte ich Pastor Max Hartman meinen tiefen Dank dafür aussprechen, dass er sich so viel Mühe gegeben hat, diesen Band, diese Übersetzung, ins Deutsche zur Veröffentlichung zu bringen. Für mich ist das eine große Ehre und ein Privileg. Nun kann ich sagen, dass es auch eine deutsche Übersetzung meines Buches gibt. Ich danke dir sehr.

 

Dann möchte ich Stefan Kube dafür danken, dass er meine Reise nach Zürich finanziell unterstützt hat und dass ich die Gelegenheit habe, Sie alle hier zu treffen. Ich danke euch für die Einladung in die Universität, denn es ist ein Privileg für mich, hier zu sein, und ich danke euch allen, dass ihr heute Abend gekommen seid.

 

Nun zu deiner Frage. Ich erinnere mich an diese Zeit als eine Zeit der Öffnung, einer neuen Welle, denn nach den zwei Verhaftungswellen von ukrainischen Kulturschaffenden in den Jahren 1965 und 1972, war es klar, dass der reale Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht existieren kann. Es gab die Idee, dass das möglich wäre. Nein, zumindest in der Sowjetunion war das unmöglich. Aber was dann?

 

Wo ist der Weg, um für Menschenrechte zu kämpfen, für Freiheit, für das Recht, uns auszudrücken? Und dann kam die Idee der Menschenrechte, und die Idee der Helsinki-Bewegung, die Idee des  dritten Korbes der Schlussakte, der Menschenrechte. Es war ein Kompromiss zwischen dem Westen und der Sowjetunion. Doch für die Sowjetunion waren der erste und der zweite Korb  sehr wichtig, und damit stabile Nachkriegsgrenzen. Die Sicherung ihres Einflussbereiches.

 

Für den Westen war der dritte Korb als Menschenrechte wichtig. Und wir beschlossen, diese Idee zu unterstützen. Denn wir wussten ganz genau, dass die Unterschrift von Breschnew unter diesem Dokument nichts bedeutet. Wir wussten es. Aber wir brauchten jemanden, der das veranschaulicht.

 

Und all diese fünf Helsinki-Gruppen, die in der Sowjetunion auftraten, machten diese Arbeit. Wir fungierten wie ein Lackmuspapier, um zu zeigen, dass die Sowjetunion ihre Versprechen nicht einhält. Und ja, nach mehreren Monaten des Zögerns, beschloss die Sowjetunion, mit den Helsinki-Gruppen abzuschließen. In der Sowjetunion gab es die ersten Verhaftungen in Moskau und dann in Kyjiw.

 

Und alle von uns, die nicht verhaftet wurden, wurden gewarnt, dass wir verhaftet würden, wenn wir unsere Aktivitäten nicht einstellen würden. Nun, wir haben nicht aufgehört. Wir wurden verhaftet. Ich erinnere mich, als ich von meinem Vernehmungsbeamten hörte, dass mein offizieller Titel, wenn ich nicht bereue, der eines der gefährlichsten Staatsverbrecher sein würde. Ich lachte und sagte: "Moment mal, sind wir für die Sowjetherrschaft gefährlicher als Mörder? Die Antwort war: Ja, denn ein Mörder tötet ein, zwei Menschen, und du tötest den Geist der Seelen von so vielen Menschen.

 

Die Idee der Menschenrechte war also für die Sowjetunion überhaupt nicht akzeptabel. Die Sowjetunion unterstellte uns, dass diese Idee die sowjetische Herrschaft, das sowjetische System, von innen heraus untergraben würde. Und das war sehr richtig, denn das Wichtigste, was die Sowjetunion zusammenhielt, war die Angst aus der Stalinzeit.

 

Aber die Helsinki-Bewegung gab nicht auf, konnte nicht gestoppt werden. Die Helsinki-Bewegung setzte diesem Gefühl der Angst ein Ende. Wir verkündeten, dass wir nicht gegen die Regierung handeln, wir stellen das System der Sowjetunion nicht in Frage. Wir kämpfen für die Menschenrechte. Wir veröffentlichten unsere Namen, veröffentlichten unsere Adresse, ich meine auch, in unseren Materialien, die im Ausland veröffentlicht wurden, natürlich nicht in der Sowjetunion.

 

Aber es war wichtig, dass wir keine Untergrundgruppe waren, weil es für die sowjetische Bevölkerung einfach war, wenn die Gruppe sich versteckt, dann ist er ein Feind. Wir haben uns nicht versteckt. Wir haben unsere Ziele verkündet, wir haben unsere Namen und Adressen genannt und das war's. Es war also eine reine Menschenrechstaktivität, ohne zusätzliche Ziele, dafür ein vielleicht ein bisschen konkreter.

 

Was waren deine Ziele, die konkreten Aktivitäten?

 

Wir hatten die Schlussakte, besonders den dritten Korb, den Text davon. Und dann hatten wir unsere Realität, als einige Dichter, einige Schriftsteller verhaftet wurden und einige Zeit im Gefängnis verbrachten, nur weil sie ihre Ideen im Ausland verbreiteten. Sie veröffentlichten ihre Werke im Ausland. Ihre Bestrafung war ein klarer Verstoß gegen das Helsinki-Abkommen, das den Menschen das Recht einräumt, ihre Ideen überall zu verbreiten, nicht nur in ihrem eigenen Land.

 

Und wir haben dann viele Situationen, viele Fakten über die Verletzung der Menschenrechte und damit des Abkommens gesammelt.

 

Bis zu meiner Verhaftung haben wir zwölf Dokumente erstellt. Zwölf Dokumente über die Verletzung der Schlussakte von Helsinki. [Natürlich hatten wir keine Möglichkeit, sie in der Sowjetunion zu veröffentlichen. Also haben wir zusammen mit anderen Moskauer Freunden dieses Dokument, dieses Memorandum, an westliche Journalisten oder Diplomaten weitergegeben, und diese Dokumente wurden auf diplomatischem Weg, ich weiß nicht genau wie, per Post, in westliche Länder gebracht und dort veröffentlicht. Und später hörten wir unsere Dokumente über Radio Liberty, Voice of America, Deutsche und so weiter.

 

Das war also unsere Tätigkeit. Und all diese Dokumente wurden später in meiner Verurteilung als Dokumentation, als Beweise für meine Schuld erwähnt.

 

Gegen welchen Artikel hast du verstoßen? Eigentlich konnte es ja nicht die Meinungsfreiheit und so weiter sein. Mussten sie also einen Verstoß gegen irgendetwas erfinden?

Ja, es gab den Artikel 62 des ukrainischen Strafgesetzbuches und fast dasselbe im Artikel 70 im Strafgesetzbuch der Russischen Föderation, den über „antisowjetische Aktivitäten“ mit dem Ziel der Untergrabung des Systems, des Staates. Dafür wurde mit sieben Jahren Gefängnis und fünf Jahren Verbannung, der Höchststrafe, bestraft.

 

Hattest du tatsächlich solche vielleicht für die Sowjetunion gefährlichen Pläne? Was waren und deine Ziele? Hast du vielleicht schon von einer unabhängigen Ukraine geträumt? Oder hast du nur zum Beispiel die Redefreiheit gekämpft?

 

Natürlich haben wir in unserem Material nicht über die Unabhängigkeit der Ukraine gesprochen, aber wir haben über die kulturellen Rechte der Ukrainer gesprochen.

Wir sprachen über die religiösen Rechte der Ukrainer. Es gab einige Religionsgemeinschaften. Zum Beispiel die griechisch-katholische. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche. Auch einige protestantische Gruppen, einige Baptistengruppen, die in der Sowjetunion nicht existieren durften.

 

Und wir haben uns für ihre Freiheit eingesetzt. Religiöse Freiheit. Übrigens war es interessant, dass der Vernehmungsbeamte mir schon während des Verhörs einen Aufruf der bei uns nicht anerkannten Baptisten zeigte, aus den USA, in dem sie an ihre Gläubigen appellierten, für alle Mitglieder der Helsinki-Gruppen zu beten, die zu dieser Zeit verhaftet worden waren. Sie hatten also erfahren, dass wir für ihre Religionsfreiheit gekämpft haben.

 

Zweite Lesung – Die Verhaftung und der Moment unmittelbar vor dem Eintritt ins Straflager

Die neue Rhetorik der Menschenrechte zeigte sich besonders deutlich, als Breschnew am 1. August 1975 an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im Namen der Sowjetunion das Schlussdokument unterzeichnete, in dessen »dritten Korb« unter anderem die Verpflichtung der Staaten zur Wahrung der Menschenrechte zu finden war. Breschnew kam offensichtlich nicht auf die Idee, dass es Menschen geben könnte, die die von ihm unterzeichneten Rechte und Freiheiten unmissverständlich ernst nahmen.

 

Damals war jedes Wort, das erwähnt wurde, mit Blut geschrieben. Jede Notiz, die jemand auf dem Schreibtisch zurückließ, wurde geheim durch Mitarbeiter des KGB durchgesehen oder sie wurden bei der Durchsuchung beschlagnahmt. Die Erwähnung einer jeden Person in den Papieren war ein Grund, sie zum Verhör beim KGB zu bestellen. Selbst ein belangloser Besuch oder die Begegnung mit einem Menschen auf der Straße führten automatisch dazu, dass die Person in die Liste der Verdächtigen des KGB aufgenommen wurde. Damit musste nicht nur auf das eigene Schicksal, sondern auch auf das Schicksal anderer geachtet werden. …

 

Am Morgen des 23. April 1977 waren Mykola Matusewytsch und ich gerade in der Wohnung seiner Schwester an der Lepse-Straße in Kyjiw, wo wir übernachtet hatten. Um halb sieben hörten wir plötzlich ein Klingeln an der Türe. Tamila stand auf, ging zur Tür und fragte: »Wer ist da?« Draußen rief eine Frauenstimme: »Ein Telegramm!« Tamila öffnete – und in der Wohnung war fast nichts mehr zu sehen außer diesen »Helden« des Staates. Immer wieder hörten wir: »Ruhe! Ruhe!« Mykolas erhobene Stimme war aber nicht leicht zu beruhigen … Es war einer der typischen Tricks des KGB. …

 

Man erklärte uns, dass eine Durchsuchung der ganzen Wohnung und auch eine Leibesvisitation erfolgt, allerdings woanders. Wir machten uns bereit. … Wir wurden wieder auf das Kyjiwer Stadtrevier des KGB in der Rosa-Luxemburg-Straße gebracht und in unterschiedliche Zimmer gesetzt. Das gab uns Zeit, uns zu beruhigen.

 

Die eiserne Tür krachte hinter mir zu – und ich landete in einer völlig anderen Welt, einem völlig neuen Leben. Mein Körper zuckte noch eine gute Woche weiter. Ich grübelte nach, was noch zu tun wäre und was an wen weitergegeben werden müsste. Es meldete sich ständig das Gefühl psychischen Stresses … Dann beruhigte ich mich und fand mich schließlich ab: »Du, junger Mann, du bleibst für lange hier. Du kannst es nicht ändern, also beruhige dich.« Das führte zu einer gewissen Erleichterung, da alles klar und voraussehbar wurde. Die Ungewissheit hatte ein Ende. Früher stand ich auf und dachte: »Wann werde ich verhaftet: heute oder morgen?« Nun war es schlicht Tatsache: Du bist verhaftet!

 

Vor der Einweisung ins Lager

In dieser Zeit wurde ich einmal zum Freigang auf den Gefängnishof geführt. Plötzlich sah ich, dass sich ein Klappfenster nach außen öffnete – und sah niemanden, hörte dann aber eine Stimme: »Ich bin Semen Glusman. Wer sind denn Sie?« Ich nannte meinen Namen. »Wissen Sie schon, dass alle Mitglieder der Helsinki-Gruppen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen sind?« »Was? Nein, unmöglich!« Für mich war diese Nachricht wie ein »Erdbeben der Stärke sieben«. Wieder zurück in der Zelle begann ich völlig erstaunt mir weitere Gedanken zu machen: »O mein Gott, Nobelpreisträger! Wenn das wirklich so sein sollte, wie könnte es möglich sein? Würde ich zur Preisverleihung freigelassen?« Ich wünschte es mir so sehr … wenn da bei mir nicht die Versuchung einer besonderen Ehrung wäre. Was ich damals erlebte, war für mein ganzes Leben außerordentlich wichtig, es wurde für mich wie eine Art der medizinischen Impfung.

 

Fortsetzung Gespräch und Fragen

 

Wir haben gehört, wie du verhaftet wurdest und ins Lager kamst, wie hast du diese Jahre unter sehr harten Bedingungen in diesem berüchtigten Lager überstanden?

 

Ich habe großen Respekt davor, meine Handlungen von damals mit dem zu erklären, was ich heute sagen würde. Das ist oft eine sehr große Versuchung. Aber, wie ich mich erinnere, war ich damals ein junger Mann und ich war 28. Und mir damals zu sagen, dass ich Angst habe und dass ich diese Gruppe nicht gründen will, und dieser Gruppe beizutreten, würde bedeuten, dass ich meine Selbstachtung verlieren würde.

 

Wir waren zu zweit, mein Freund und ich, und es ist immer einfacher, zusammen zu gehen. Wir haben uns entschieden, oder etwa nicht? Ja, wir verstehen, dass diese Aktivität mit einer Verhaftung Pause enden könnte. Nun, das ist einfach unsere Art.

 

Und als ich, nachdem ich verhaftet worden war, das Material las, was über mich gesammelt worden war – da sagte ich mir einfach: Okay, jetzt sieht es so aus, das ist es also. Ich habe es akzeptiert. Der zweite Gedanke galt natürlich meiner Mutter, wie sie überleben wird.

 

Das war also nicht nur theoretisch, es war natürlich schmerzhaft, aber das war mein Weg. Und ich erinnere mich an all diese schwierigen Momente in meinem Leben im Gefängnis, als ich dem Tod nahe war. Nun, lass mich dir ein Beispiel geben. Ich wurde in einem Sonderzug von einem Ort zum anderen transportiert. Und ein Wächter holte mich aus meiner Zelle im Zug, legte mich an einen besonderen Ort, richtete die Waffe auf mich und sagte, ich werde dich jetzt töten.

 

Er war entweder betrunken oder unter Drogen, ich weiß es nicht. Aber es war der Moment: Nun, vielleicht ist mein Leben in einer Sekunde vorbei. Aber ich kann mich nicht an den Gedanken erinnern. Oh.

 

Warum ich das getan habe? Ich bin jung und jetzt werde ich sterben. Ich akzeptiere, was dieser Weg für mich bedeutet, und ich bin sehr dankbar, dass ich ihn gegangen bin. Du kannst daran glauben, dass du an solchen Orten den Frieden in deiner Seele bewahren kannst. Weil du auf der richtigen Seite der Geschichte stehst.

 

Ich habe beim Lesen deines Buches den Eindruck gewonnen, dass auch die Sprache sehr wichtig ist. Die ukrainische Sprache war sehr wichtig für dich. Du hast sogar mit den Wachen im Lager Ukrainisch gesprochen. Kannst du uns also ein wenig darüber erzählen, was die Sprache für dich bedeutet? Warum ist sie so wichtig und welchen Status hatte die ukrainische Sprache in der damaligen Ukraine?

 

Zunächst einmal ist die ukrainische Sprache mein geistiger Raum. Ich lebe in dieser Sprache, ich denke in dieser Sprache. Es ist also keine Frage, ob ich sie akzeptiert habe oder nicht.  Sie ist meine Natur. Ich erinnere mich daran, wie es war, als ich damals mit meinem Freund in Kyjiw offen ukrainisch gesprochen habe, nicht heute, aber damals in den 70er Jahren in den Verkehrsmitteln in Kyjiw, als wir laut ukrainisch sprachen viele Leute sahen uns als gute Nationalisten an, etwas Gefährliches- Viele, viele Gesichter sahen uns an, weil es zu herausfordernd war.

 

Ich kann nicht sagen, dass wir sofort Zeitungen auf ukrainisch lasen. Es gab einige Radiosender in ukrainischer Sprache. Die damalige Vision in der Sowjetunion war, dass es eine Umwandlung der Nationen in eine sowjetische Nation mit russischer Sprache geben würde. Sich offen in ukrainischer Sprache zu präsentieren, bedeutete also, dass man nicht in diese offizielle Linie passte. Als ich dann in das Arbeitslager kam, war es einerseits einfach, weil die meisten Gefangenen Ukrainer waren und wir uns leicht auf Ukrainisch verständigen konnten.

 

Es gab auch einen KGB-Offizier, der frei mit uns Ukrainisch sprach, aber wir zogen es vor, dass er nicht Ukrainisch sprach, aber er sprach mit uns Ukrainisch.

 

Wir vermissten im im Arbeitslager nicht die Ukraine, sie war ja unter uns. Gleichzeitig erinnere ich mich an den kurzen Besuch meiner Mutter im Lager. Sie brauchte drei Tage, um von der Region Lwiw in die Region Perm nahe dem Uralgebirge zu kommen. Sie kam an und dann wurde ich gewarnt, dass ich mit meiner Mutter in diesen zwei Stunden nur ausschließlich auf Russisch sprechen dürfe. Ich weigerte mich.

 

Dann blieb meine Mutter hartnäckig. Sie übermittelte mir die Bitte, bitte, bitte, ich hatte eine so lange Reise zu dir, bitte sprich Russisch. Okay? Ich habe beschlossen, dass ich Russisch sprechen werde.

 

Das Russisch meiner Mutter war nicht so gut. Es war also eine Tortur für uns zwei und wir wussten ganz genau, dass der KGB-Offizier perfekt Ukrainisch spricht und es gab andere unter den Wachen, die Ukrainer waren, also war es nicht das Problem, dass niemand diese Sprache spricht. Es war einfach eine besondere Art von Folter. Ich war ich während dieser 2 Stunden nass vor der Erniedrigung und ich beschloss, dass ich niemals jemanden persönlich dazu zwingen werde, eine andere Sprache als die seiner Mutter zu sprechen, denn das ist Folter. Es ist Folter.

 

Du hast gesagt, als du aus der Westukraine damals nach Kyjiw kamst, haben dich die Leute misstrauisch angeschaut, weil du Ukrainisch gesprochen hast. Wie hast du die Menschen in Kyjiw wahrgenommen, die hauptsächlich Russisch sprachen? Was hast du über sie gedacht? Hast du gedacht, dass sie Ukrainer oder Russen sind? Warum sprechen sie nicht ukrainisch?

 

Nun, zunächst einmal müssen wir unterscheiden zwischen Russen, ethnischen Russen, die ihre eigene Sprache, das Russische, sprechen, und den Ukrainern, die Russisch sprechen. Die erste Gruppe spricht legitimerweise Russisch und ich habe nichts dagegen. Meine Wahrnehmung derjenigen, die damals Russisch sprachen, obwohl Ukrainische ihre Muttersprache war, war die folgende: Sie sind das Ergebnis einer massiven und andauernden Russifizierung. Ich kann auch nicht sagen, dass sie heute gezwungen werden müssen, zum Ukrainischen zurückzukehren. Ich wünsche mir vor allem, dass die Russifizierung gestoppt wird und dann  die Gelegenheit für sie, für ihre Familien, zur Muttersprache zurückzukehren.

 

Aber kein Druck, die Möglichkeit geben, ermutigen; nicht Gewalt gegen sie.

 

Stefan sagte, dass du als junger Mensch nicht wirklich religiös gewesen bist. Du warst agnostisch, wie du im Buch schreibst, aber Sie wurden mehr und mehr religiös. Welche Rolle oder Bedeutung hatte die Religion in deinem Leben? Vielleicht im Lager, um das Lager als Mensch zu überleben, als geistig gesunder Mensch, oder für dein Leben?

 

Nun, diese große Frage für die Ukraine, was bedeutet die Religion in der Ukraine? Ukrainische Menschen damals und heute, wenn wir ein bisschen in die Gegenwart gehen. Diese Frage zu beantworten, brauche ich mindestens zwei. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Zunächst einmal, gab es keine große Veränderung in meiner Seele durch den Wandel vom Agnostiker zum Gläubigen. Denn als Agnostiker kämpfte ich für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit.

 

Als ich dann gläubig wurde, verstand ich, dass dies ein anderer Namen von Gott sind - und das ist alles. Es gab also keine Spannungen in mir.

 

Dann aber ist mir aus christlicher Sicht sehr wichtig, für die Suche nach der Wahrheit bereit zu sein, verfolgt zu werden.

 

Es ist eine direkte Verbindung zum Evangelium.

 

Das habe ich damals, als ich im Gefängnis war, nicht erkannt, sondern es war nur Frieden in meinem Herzen, wie ich schon sagte. Aber später, als ich das Gefängnis verließ, das Arbeitslager, fühlte ich mich nicht so friedlich. Was hat sich in mir geändert? Und dann verstand ich, dass ich damals in Frieden lebte, weil mein tägliches Leben durch die Tatsache gerechtfertigt war, dass ich für die Wahrheit kämpfe und für die Wahrheit verfolgt werde. Als ich das Gefängnis verließ, musste ich mir diesen Segen verdienen, ich muss jetzt arbeiten, das ist nicht automatisch gerechtfertigt.

 

Ich bin mir nicht sicher, ob du mich im vollen Sinne verstehst, aber es war sehr sichtbar, dass ich sogar das Gefühl habe. Wir alle erinnern uns wahrscheinlich an das folgende Wort von Jesus. Er appellierte an die Gläubigen Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dies ist also ein wichtiger Moment, denn Jesus hat das zuerst gemacht. Er kommt zu uns ins Gefängnis. Er lädt uns ein, das zu tun, was er als erstes tut, und er kommt zu den Gefangenen, die umsonst leiden.

 

Dieses religiöse Moment sehr deutlich, sehr sichtbar im Gefängnis, natürlich die Solidarität mit den Menschen. Einige Leute waren nicht sofort bereit für die religiöse Dimension. Aber die Tatsache, dass die Sowjetunion ein atheistisches Land ist und wir gezwungen sind, in einem Gefängnis nicht religiös zu sein, alles Religiöse war verboten, alles, man durfte nicht beten, auch nicht gemeinsam. Aufgrund dieses Drucks ist die typische Reaktion der Menschen: Ich will diesen Atheismus ablehnen, ich will der Religion nahe kommen.

 

Lass mich dir ein paar Beispiele aus dem religiösen Leben im Lager geben, in dem ich dringend die Bibel brauchte.

 

Als ich gläubig wurde, musste ich sie lesen und es gab natürlich keine Bibel in der Bibliothek des Lagers. Aber es war merkwürdig, dass es dort ein komisches Evangelium gab, ein atheistisches Buch. Der Trick, der für mich sehr wichtig war, war der folgende: Dieses atheistische Buch zitierte einige Verse aus dem Evangelium, also las ich nicht dieses ganze atheistische Blabla. Ich las diese Zitate, aber das war mir schließlich nicht genug und ich beschloss, einen Hungerstreik anzukündigen mit der Forderung, das Recht zu haben, die Bibel zu lesen. Und diesen Hungerstreik habe ich 20 Tage lang gemacht.

 

Irgendwann, vielleicht am Tag 14, wurde ich durch einen Schlauch gefüttert. Der Schlauch wurde mir ganz in den Magen geschoben und sie füllten ihn mit flüssiger Nahrung. So versuchten sie, mich am Leben zu halten.

 

Aber am 20. Tag gab es ein ernsthaftes Gespräch in mir. Einerseits will ich immer noch die Bibel lesen, andererseits weiß ich auch ohne die Bibel, dass Selbstmord gegen das Christentum ist.

 

Also muss ich mich entscheiden. Ich habe mich entschieden, aufzugeben. Vielleicht muss ich sagen, dass es die Stimme meines Körpers war, vielleicht, wer weiß? Aber zumindest habe ich beschlossen, aufzugeben. Was soll ich sagen? Denn ich würde gerne sagen, wie ich von Gott für diesen Hungerstreik belohnt wurde.

 

Der KGB-Offizier wollte mich für diesen Hungerstreik bestrafen und sie haben mich in die Einzelhaft verlegt, als ich beschloss zu essen. Ein Mensch will nach 20 Tagen essen, aber während des Transfers geben sie dir dann die Hälfte eines Brotes. 450 Gramm Brot und einen Salzfisch.

 

Das ist nicht das Essen, das man nach 20 Tagen Hungerstreik zu sich nehmen muss. Aber ich habe langsam gegessen, langsam, aber eine Stunde später war kein Brot und kein Salzfisch mehr da. Ich will immer noch mehr essen. Sie brachten mich in ein andere Zelle, wo drei Kriminelle saßen und mich ansahen. Ich grüßte sie, setzte mich, und sie nahmen ohne ein Wort, ich hörte kein Wort ihr Brot aus ihren Taschen und legten es vor mich.

 

Es war ein wunderbarer Moment, vor allem ein sehr bewegender Moment. Ich erinnere mich, dass ich weinte und das Brot aß, weil sie sahen, dass ich hungrig war. Also gaben sie mir es. Später beschloss ich, dass es meine Pflicht ist, dieses Geschenk zurückzugeben. Und als ich in Kasachstan im Exil war, gab es Leute, die auf einem sehr niedrigen sozialen Niveau arbeiteten, Leute ohne Familie, halb kriminell, sozusagen, aber sie arbeiteten in diesem Dorf und manchmal hatten sie nichts zu essen. Sie wussten, dass sie zu mir nach Hause kommen durften, und ich habe sie versorgt. Ich hatte mein kleines Zimmer zu dieser Zeit in Kasachstan und ich würde sie auf jeden Fall füttern - in Erinnerung an diese Verbrecher. Das ist also die religiöse Erfahrung. Es gibt eine menschliche Natur, sogar in Kriminellen.

 

Ich denke, es ist an der Zeit, dem Publikum die Gelegenheit zu geben. Ich bin mir sicher, dass es Fragen gibt.

 

Ich möchte eine Frage auf Ukrainisch stellen.

 

Ich schätze die Entscheidung der ehemals russisch sprechenden Ukrainer sehr, die Sprache zu wechseln und zum Ukrainischen zu wechseln und bin stolz, wenn ich ihren Enthusiasmus sehe, mit dem sie das tun.

 

Ich erinnere ich mich an den Moment, als zwanzig ukrainische Soldaten von der Front nach Lwiw gebracht wurden, um sich ein paar Tage zu erholen und um einige Treffen und Diskussionen zu führen und so weiter. Ich sprach mit ihnen über meine Erfahrungen im Gefängnis.

 

Sie stellten Fragen. Zwei von ihnen sprachen Russisch, fragten mich auf Russisch. Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich mit ihnen kein Russisch spreche, da sie jetzt an der Front für meine Freiheit kämpfen. Einerseits schätze ich diejenigen, die die Sprache ändern. Andererseits würde ich es vorziehen, dass dies ihre eigene Entscheidung ist. Ich möchte nicht, dass einige Leute zu einer gewaltsamen Lösung gezwungen werden.

 

Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie uns besuchen und dass ihr das hier organisiert habt. Ich habe einen ganz kleinen Kommentar zu deiner Geschichte über Kyjiw, denn ich komme aus Kyjiw und möchte Ihnen das unbedingt sagen. Und dann noch eine Frage und eine kurze Anmerkung: Ich wurde 1985 geboren, also in der Sowjetunion. Aber als ich zur Schule ging, wurde die Ukraine zum Glück unabhängig und ich hatte die Möglichkeit, Ukrainisch zu lernen. Meine Mutter wurde 1960 in Kiew geboren und hatte keine Möglichkeit, eine ukrainische Schule zu besuchen.

 

Ihre Generation war also völlig ungebildet. Aber meine Großeltern, die aus Kyjiw stammen, sprachen zu Hause immer Ukrainisch, aber wenn sie zur Arbeit gingen, mussten sie zu ihrem Schutz auf Russisch umsteigen. Deshalb möchte ich dir auch sagen, dass es nicht stimmt, wenn die Leute sagen, dass Kyjiw eine russischsprachige Stadt ist, denn viele Menschen, die aus Kyjiw stammen, sprachen ursprünglich Ukrainisch. Und eine Frage an dich, Sie inspirieren viele Menschen mit Ihrer Geschichte als jemand, der kämpft, der bereit ist, sein eigenes Leben zu opfern. Sie wussten um die Gefahr, in die Sie sich begeben, um für Rechte und Freiheit zu kämpfen. Und ich habe auch viel über Dissidentenbewegungen gelesen.

 

Das waren Menschen, die keine klare Zukunft in dem Sinne hatten, dass ihnen niemand sagte, dass die Ukraine unabhängig sein würde. Es war nur ein Traum. Während der Sowjetzeit hat ihnen das auch niemand versprochen. Aber selbst in den Lagern traten die Menschen in den Hungerstreik, oder sie protestierten und kämpften für ihre Freiheit. Wie erklären Sie sich dieses ukrainische Phänomen, dass die Menschen trotz hundertjähriger russischer Propaganda nicht aufgeben? Sie waren immer noch Menschen wie Sie mit diesem phänomenalen Freiheitswillen, denn andere Nationen haben das nicht.

 

Vielen Dank für diesen Kommentar. Sie haben Recht. Ich erinnere mich an einen Moment, der mir von Oleschewschenko, einem anderen Dissidenten, erzählt wurde, der durch die Tatsache traumatisiert war, dass seine Mutter einen Herzinfarkt hatte.

 

Er rief den Krankenwagen und begann, die Situation in der Ukraine auf Ukrainisch zu erklären. Die Antwort des Krankenwagens lautete: "Sprechen Sie die menschliche Sprache.“

In dem Moment, als seine Mutter einen Herzinfarkt erlitt, war er so frustriert, dass er das aus dem Mund eines Menschen hören musste.

 

Jetzt möchte ich den Satz in Frage stellen, dass andere Nationen nicht diesen Drang nach Freiheit haben, denn es scheint mir, dass es überhaupt keine Nation gibt ohne diesen Wunsch. Wir können über die Unterschiede sprechen. Zum Beispiel sind einige östliche Nationen in Asien eher für autokratische Regeln geeignet und brauchen keine Redefreiheit.

 

Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie ein Kasache, ein alter Kasache, mir während der Perestroika sagte, oh, das ist eine falsche Tendenz, eine falsche Tendenz, Redefreiheit.

 

Nur eine Person hat zu sprechen, alle anderen gehorchen. Das ist also die Mentalität einer anderen Zivilisation, aber sie sind auch Menschen, und sie wollen in Freiheit leben. Also das ist eine kleine Korrektur, aber die Besonderheit der ukrainischen Nation ist wirklich die Tatsache des Drangs nach Freiheit, und sie wurde sehr eloquent von unseren Verhörern beschrieben. Sie erzählten es so:

 

Die Ukrainer rebellieren immer, und diese Rebellionen nehmen ständig zu. Wir müssen diese Auswüchse immer wieder abschneiden, bis wir Frieden haben. Also werden wir jetzt während unserer Verhaftungen an ihnen schneiden, wir werden jetzt schneiden, und dann haben wir zehn Jahre lang eine friedliche Existenz. Ich habe den Eindruck, dass es Putin jetzt sehr leid tut, dass die Ukraine 30 Jahre lang die Möglichkeit hatte, sich zu entwickeln, und jetzt will die ganze Bevölkerung frei sein. Nicht nur Dissidenten, sondern die ganze Bevölkerung.

 

Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Es ist mir eine Freude, Sie zu treffen und von Ihren Erfahrungen zu hören.

 

Ich habe eine Frage, und wenn sie zu persönlich ist, müssen Sie sie natürlich nicht beantworten. Sowohl Sie als auch Professorin Boškovska haben vorhin die sehr vielfältige religiöse Landschaft in der Ukraine in Bezug auf die christlichen Konfessionen erwähnt. Da du zuerst Atheist warst und später religiös geworden bist, frage ich mich, welche Konfession Sie gewählt haben und warum, oder Sie überhaupt einer Konfession angehören.

 

Ich bin ein griechischer Katholik.

 

Griechisch-katholisch bedeutet, dass wir in unseren Ritualen orthodox sind, aber zur katholischen Familie gehören und den Papst als unser geistliches Oberhaupt haben.

Diese Kirche war seit 1946 verboten bis 1989, als Gorbatschow Johannes Paul II, den Papst, besuchte und sie sich auf Religionsfreiheit für griechische Katholiken einigten. Und danach konnte sie aus dem Untergrund in die Öffentlichkeit treten. Nun ist diese Kirche [...] nicht die größte in der Ukraine, aber ich würde sagen, ziemlich einflussreich.

 

Auch von meiner Seite vielen Dank für alles, was Sie mit uns geteilt haben. Mich würde ein Teil Ihrer Biografie interessieren. Sie haben über Ihre Inhaftierung im Arbeitslager gesprochen. Danach wurden Sie, soweit ich weiß, nach Kasachstan verbannt. Mich würde interessieren, wie ich mir dieses Leben in Kasachstan vorstellen kann. Wie sah Ihr Leben aus? Wie sah Ihr Alltag aus? Haben Sie gearbeitet? Ich habe keine Ahnung, wie es war, in der Sowjetunion irgendwohin verbannt zu sei, im Gegensatz zu einer Inhaftierung zum Beispiel.

 

Ich danke Ihnen. Während sieben Jahren, eigentlich sechs Jahren, ein Jahr davon war in der Untersuchungshaft, dann sechs Jahre war im Arbeitslager. Das bedeutete, dass ich in einem kleinen Gelände eingesperrt war, umgeben von drei Reihen Stacheldraht.

 

Natürlich konnten wir uns nicht außerhalb des Lagers bewegen. Später, im Exil, wurde ich in einem Dorf untergebracht, einem kasachischen Dorf, einem ziemlich abgelegenen Dorf. Ich konnte mich in diesem Dorf frei bewegen. Ich arbeitete als Tischler. Ich hatte ein kleines Zimmer für meine privaten Bedürfnisse und meine Verwandten konnten zu mir kommen und bei mir sein.

 

Später kam meine Frau zu mir: Ich hatte kein Recht, dieses Dorf zu verlassen und mich mehr als 30 km im Umkreis zu bewegen. Aber erste Wohnort zwischen diesem Dorf und dem nächsten Dorf lag 50 km weit weg. Also keine Chance, irgendeinen menschlichen zu besuchen. Und außerdem musste ich ab und zu von der Polizei kontrolliert werden, ob ich auch wirklich vor Ort bin. Aber der kasachische Milizionär hat verstanden, dass ich kein Krimineller bin.

 

Er vertraute mir, dass ich nicht abhauen würde. Also machte er nicht alle Kontrollen. Er war dann auch der erste, der mir verkündete, dass Gott meine Schuld begnadigt und mich zwei Jahre zuvor freigelassen hat.

 

Ich würde gerne wissen, wie Sie Ihren persönlichen Einfluss oder den Einfluss der Helsinki-Gruppe auf den weiteren Verlauf der Geschichte in der Ukraine einschätzen? Oder vielleicht auf den Zerfall der UdSSR?

 

Der Einfluss war ziemlich groß. Vielleicht nicht im politischen Sinne, denn die Mitglieder der Helsinki-Gruppe waren keine Politiker und ich wollte auch während der Unabhängigkeit keiner politischen Gruppe beitreten. Aber natürlich hatte die Helsinki-Gruppe eine politische Bedeutung und Folge.

 

Ich würde sagen, die wichtigste Folge war, dass die Menschen zum ersten Mal verstanden haben, dass sie keine Angst mehr haben müssen. Nicht deshalb, weil sie nicht gesehen haben, dass wir verhaftet haben: Nein, dass es Menschen gibt, die keine Angst haben. Das ist wichtig, das Beispiel solcher Menschen und dann die Idee der moralischen Autorität.

 

Wo ist die moralische Autorität zu suchen? Lenin, andere kommunistische Führer? Danach haben die Leute nichts mehr in diesem Sinne gehört. Ja, diese Dissidenten haben ihre Freiheit geopfert. Dann sind sie tatsächlich moralische Autoritäten.

 

Es tut mir leid, dass ich das jetzt sagen muss, denn ich gehöre zu dieser Gruppe: Ich gebe nicht vor, eine moralische Autorität zu sein. Aber das war die Wahrnehmung der Menschen. Der Einfluss war also groß. Später wurden einige Mitglieder der ukrainischen Helsinki-Gruppe zu Politikern und verwandelten die Menschenrechtsgruppen in eine vorpolitische [...] Aktivität. Es gab ihnen nicht das Recht, eine Partei zu organisieren, aber es war möglich, so etwas wie eine Partei zu organisieren, und das war auch wichtig.

 

Dritte Lesung: "I have a dream"

Ich glaube, dass einmal der Tag kommt, an dem, was bisher nicht erreicht wurde, verwirklicht sein wird:

1.            Die Verbrechen des Kommunismus werden in einem würdigen Gerichtsverfahren als Verbrechen an der Menschheit eingestuft. Das wahre Wesen der kommunistischen Bosheit wird entlarvt und sämtliche Illusionen und Verlockungen, die zur Sünde des Kommunismus führten, genauso bewusst erkannt, wie das in Bezug auf die Sünde des Nationalsozialismus geschah.

2.            Putin und seine Clique werden zusammen mit all ihren Satelliten vom Typ Janokuwytsch für ihre Versuche, das vergangene Übel des Kommunismus zu erneuern und damit die Grundlage der Zivilisation zu zerstören, von einem internationalen Tribunal verurteilt.

3.            Alle bis vor kurzem kommunistischen Völker, und vor allem Russland, müssen eine Katharsis durchstehen, die sie vom Erbe der eigenen kommunistischen »Dämonen« (Dostojewski) reinigt und mit der sie gemeinsam ihre Schuld für die Verherrlichung der kommunistischen Bestie anerkennen. Westeuropa wird ebenfalls eine reinigende Katharsis durchlaufen müssen, wo die Verharmlosung oder sogar Begeisterung für den Kommunismus, das apokalyptische Tier in den osteuropäischen Völkern, gepflegt und sogar legitimiert wurde.

4.            Die bis vor Kurzem vom Kommunismus bestimmten Völker müssen ihre eigene Verantwortung für ihre blutige Vergangenheit übernehmen und bereuen.

5.            Gottes Stunde wird geschehen, wenn alle diese geistig geläuterten Völker ihr durch die unzähligen Opfer des Kommunismus beschmutztes Kleid ausziehen und danach geschieht, wozu nur das Opfer moralisch berechtigt ist: zu vergeben.

 

Nur wenn die Verbrechen des Kommunismus solidarisch wirklich verurteilt, die gemeinsame Schuld für seine Verherrlichung anerkannt und das ganze Verbrechen, das sie einander im Zustand der kommunistischen Verirrung zugefügt haben, gegenseitig vergeben, werden diese Völker den endgültigen Sieg über den Kommunismus erreichen und sich die ehemals »blutdurchtränkten Böden« zu einem Ort der wahren Versöhnung und des Wohlergehens verwandeln.

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Ich wollte meine Selbstachtung nicht ver
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