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Stehen wir vor dem Dritten Weltkrieg? Ein Kommentar zu Putins Wahl.

Gehen wir auf den Dritten Weltkrieg zu oder hat er bereits begonnen?

 

Ein Kommentar von Max Hartmann zur Putins Wahl – Max Hartmann

Der Beitrag enthält zwei Bonus und am Schluss ein PDF.

 

Bild: Aquarell zum Krieg von Danylo Movchan

 

Nun ist Putin definitiv Langzeitherrscher. Sein Weg von einer armen Familie, in der er geschlagen wurde, begann, als er sich für den KGB bewarb und eine Karriere plante. Niemand ahnte damals, dass er einmal ganz oben steht und in der Geschichte der Menschheit ein schreckliches Erbe zurücklassen wird.

 

Als die Sowjetunion zerbrach, blieb einzig die Institution der KGB erhalten und begann, sich in in den Wirren der 90er-Jahre das Vermögen der früheren Sowjetunion im Westen sichern und beteiligte sich an der internationalen Mafia. Unerkannt blieb der KGB die eigentliche Macht Russlands.

 

2000 wurde er plötzlich, zuvor dem Volk unbekannt, von seinen Kumpanen nach oben gespült: Er tat es zunächst seinem äusserst Krieg in Tschetschenien. Eine russische Journalistin, die genau recherchierte, wie es dazu kam und wer wirklich die terroristischen Anschläge in Moskau und anderen Orten organisiert hatte, kam zu der von ihr bewiesenen Überzeugung: Es waren nicht tschetschenische Extremisten, die es tatsächlich gab, und ihr Gebiet in einen islamistischen Staat gelöst von Russland umwandeln wollten, sondern der KGB. Bald danach wurde sie ermordet. Unzählige Morde begleiten den Weg Putins bis heute.

 

Nach der Wahl gab es immer noch eine freiere Meinungsäusserung und eine Opposition. Zunächst spielte Putin den Wolf im Schafspelz: Er baute zunächst das völlig desolat daliegende Land wieder auf und ein gewisser Wohlstand entwickelte sich zu Gunsten einer breiteren Bevölkerung, zudem eine sehr reiche Oligarchie, die jene Teile der Wirtschaft an sich riss, mit denen sich etwas machen liess: Öl und Gas. Für die Finanzierung und zur Unterstützung des nötigen Knowhows war westliches Knowhow und Geld sehr willkommen. Dort kam Putin auch gut an. Viele hofften auf gute Geschäfte, das Land touristisch vermehrt entdeckt.

 

2008 zeigte sich das erstes Mal, dass Putin noch andere Pläne hatte,  als sein Land in eine erfolgreiche, «normale» Nation zu verwandeln. Dazu benutzte er wieder einen Krieg: Der Angriff auf Georgien, wobei dieses kleine Land Teile chancenlos seines Gebiete verlor: Abchasien und Südossetien.

 

Die internationale Gemeinschaft regierte irritiert und hilflos. Danach schien es, dass Putin sich aus der Politik verabschiedet. Medwedew wurde Präsident, Putin Ministerpräsident. Der neue Präsident erschien dem Westen sehr sympathisch, war jedoch ebenso ein Wolf im Schafspelz (vertritt heute eine noch weit härtere Haltung als Putin). Bereits 2012 war Putin zurück an der Macht, wozu er das Gesetz ändern liess, damit eine weitere Wahl möglich war

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Nun wurde sein deutlich härter: Gleichschaltung der Medien, Beseitigung der Opposition, auch innerhalb der Oligarchie. Viele begannen zu flüchten oder landeten nach Scheinprozessen im Straflager oder starben plötzlich mit merkwürdigen Begründungen

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2014 liess sich Putin gross an der gigantisch organisierten Winterolympiade in Sotschi feiern. Aber genau am Tag nach dem Ende griff er in der Krim und im Donbas ein, was schon länger vorbereitet war. In derselben Zeit ereignete sich in Kyjiw auf dem Maidan ein Volksaufstand: die «Revolution der Würde». Es geschah, nachdem der damalige Präsident, sich völlig unerwartet geweigert völlig hatte, seine Unterschrift auf das Papier zur Verhandlung über die Aufnahme in die EU zu setzen -  und damit den beschlossene Volkswillen verletzte.

 

Auf der Krim und im Donbas erschienen zahlreiche Soldaten ohne Abzeichen, die die einen angeblichen in breiter Mehrheit vorhanden Willen der dortigen Bevölkerung für die Unabhängigkeit von der Ukraine oder den Anschluss an Russland kämpfen. Innerhalb von wenigen Tagen wurde dieses scheinbare Anliegen im russischen Parlament genehmigt. Zum Schein wurde noch ein Referendum durchgeführt, dessen Resultat gefälscht wurde. Wieder reagierte der Westen irritiert und hilflos. Es kam zu einigen Sanktionen, jedoch nicht wirklich nachhaltig.

 

Schon zuvor und nun erst recht begann die russische Propagandamaschine zu funktionieren - mit dem Ziel, den Westen zu schwächen und zu spalten. Da bei uns wenige Kenntnisse über die tatsächliche Geschichte der Ukraine und auch über die wirkliche Situation der Ukraine vorhanden sind, spielte sie für Putin. Der Krieg im Donbas wurde etwa als «Bürgerkrieg» betrachtet. Zudem hatte Putin schon länger ultrarechte Kreise und Parteien im Westen mit sich vernetzt. Bei der Wahl von Donald Trump spielt die russische Propaganda spielte auch eine gewisse bewiesene Rolle. Und ebenso die Unterstützung von Verschwörungstheorien im Umfeld der Corona-Krise.

 

Putin engagierte sich auch immer mehr weltweit, besonders im Nahen Osten. Damit ermöglichte er dem syrische Diktator Assad mit seinen zahlreichen brutalen Verbrechen, dass dieser sich halten konnte. Der syrische Bürgerkrieg forderte hunderttausende von Toten und führte 2016 zur europäischen Flüchtlingskrise – ebenfalls ein wichtiger Erfolg der Strategie Putins zur Schwächung  und Spaltung des Westens.

 

Ideologisch engagierte er sich immer klarer: Seine langfädigen «Geschichtslektionen», die vielen einsichtig erscheinen, wenn sie die wirkliche Geschichte nicht kennt. Die Vernetzung mit der russischen StaatskKirche als moralische Stütze seines Regimes. Das neu gewählte Oberhaupt dieser Kirche ist ein Freund Putins schon zu ihrer Zeit in Sankt Petersburg - und war Mitarbeiter der KGB.

 

Beide verfügen über grosse Vermögen. Putins Vermögen lässt sich nur erahnen. Nawalny war es, der über seine Villen am Schwarzen Meer zu recherchieren begann und einen Film veröffentlichte, der in Russland im Internet viral ging – und damit für Putin gefährlich. Putin könnte zu den reichsten Männern der Welt gehören. Seine grossen Auftritte im Kreml sind dem entsprechend.

 

Es liesse sich noch viel mehr sagen. Gerne leihe ich Bücher aus, die diese Entwicklungen schildern und belegen.

 

Der Krieg in der Ukraine war in dieser Strategie längst geplant, wurde ideologisch bestens vorbereitet und die Armee frühzeitig vor die Grenzen gesetzt. Und der Westen versuchte immer wieder mit Putin vergeblich zu verhandeln. Es zeigte sich deutlich am unendlich langen Tisch im Kremls, wie entschlossen Putin war. n.

 

Die "Erfolgsgeschichte" Putins ist gigantisch und hat zu einer «Zeitenwende» geführt (Olaf Scholz). Die weitere Entwicklung hängt davon ab, ob es dem Westen gelingt, sich zu einigen oder einig zu bleiben und und Putin eine Niederlage durch die Verteidigung der Ukraine eine Niederlage zu bereiten.

 

Der Krieg verursacht täglich unsägliches Leiden: Hunderttausende an Toten beidseitig, unerhörte Geldverschwendung, zerstörte Gebäude und Infrastrukur, immense ökologische Schäden und eine weitere Traumatisierung von Generationen in der ukrainischen Bevölkerung, die bereits durch die Verbrechen Hitlers und Stalins am stärksten in Europa zu leiden hatte.

 

Dass Russland noch mehr Todesopfer hatte, liegt an der Tatsache, dass Stalin nicht auf einen Krieg vorbereitet war. Er glaubte an den Molotow-Ribbentrop Pakt eines beidseitigen Nichtangriffes und der Teilung ihrer Machtbereiche im östlichen Mitteleuropa.

 

Was heisst das alles für unsere Zukunft? Kommt es zum Dritten Weltkrieg oder dieser bereits begonnen? Es erinnert an die Situation in den 30er-Jahren des letzten Jahrhundert. Damals wurde sehr lange die Gefahr durch Hitler verkannt oder verdrängt. Hitler konnte so schrittweise seine Macht mit immer mehr Gewalt und Schrecken ausbreiten mit seinem von ihm fanatisierten Volk. Schon damals wollte niemand wollte wieder einen Weltkrieg. Doch genau dieses Zögern führte zum nächsten Weltkrieg.

 

 

Bonus Recherche-Zentrum der Carnegie-Stiftung

Ultrakonservative national-imperialistische Ideologie – Putins Regime

Andrej Kolesnikow, Carnegie Endowment for International Peace

 

Während es keinen Zweifel am Ausgang der Wahl gibt, entlarvt der Präsidentschaftswahlkampf bereits den Mythos der vollständigen Konsolidierung um einen unersetzlichen Präsidenten. Wladimir Putin mag kurzfristig gewinnen, aber er legt Minen unter die Zukunft des Landes.

 

Das Putinsche Machtmodell stützt sich bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024 auf zwei instabile Säulen: passiven Konformismus und Angst - letztere wurde durch den plötzlichen Tod des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalny einen Monat vor der Wahl noch verstärkt. Auch wenn es keinen Zweifel am Ausgang der Wahl gibt, entlarvt der Präsidentschaftswahlkampf bereits den Mythos der vollständigen Konsolidierung um einen unersetzlichen Präsidenten. Wladimir Putin mag kurzfristig gewinnen, aber er legt Minen unter die Zukunft des Landes. Offenbar hat sich das Regime mit dem Motto "après nous, le deluge" abgefunden und ist nicht in der Lage, seine Ziele zu definieren und erschöpft den langfristigen Vorrat an politischen, wirtschaftlichen, demografischen und psychologischen Ressourcen.

 

 

Der allgegenwärtige Staat

 

In seinem Roman "Ein Held unserer Zeit" beschrieb der russische Schriftsteller Michail Lermontow "die Laster unserer ganzen Generation" in einem Mann, dem (Anti-)Helden der Geschichte. Zwei Jahre nach Russlands "militärischer Sonderoperation" in der Ukraine ist der heutige "Held unserer Zeit" ein passiver Konformist, der das Offensichtliche nicht sehen oder hören will. Um das Unentschuldbare zu entschuldigen und sich das Unerklärliche zu erklären, nehmen die Menschen die Fötusstellung ein, geben die Verantwortung für alles ab und verteidigen sich mit von oben auferlegten Propaganda-Klischees gegen die Welt. Sie erklären das Archaische und Undenkbare für völlig moralisch und sogar für die einzig mögliche Lösung. In der Welt dieser Konformisten gibt es keine Kollektivschuld oder gar Kollektivverantwortung: Sie können nichts beeinflussen, also sind sie auch nicht schuldig. Ihr Standpunkt ist: "Dieser Krieg ist unnötig, aber wir haben ihn nicht angefangen. "

 

In den letzten zwei Jahren hat das Putin-Regime alles umgebaut, um sich auf einen permanenten Kriegszustand einzustellen: in der Propaganda und im Alltag, im politischen Modell zur Vereinheitlichung des Verhaltens der Eliten und des einfachen Volkes, im Bildungs- und Justizsystem und - ganz wichtig - in der Wirtschaft.

Wie jeder langwierige Konflikt hat auch der russische Krieg zu einer für das postindustrielle Zeitalter ungewöhnlichen Gewalttätigkeit geführt, zusammen mit theatralischen und archaischen Vorstellungen vom Heldentod. Die Öffentlichkeit hat kaum eine andere Wahl, als sich weiter darauf einzustellen. Es handelt sich nicht mehr um ein autoritäres Regime, das von den Menschen nur Schweigen verlangt, sondern um ein halbtotalitäres Regime (hybrider Totalitarismus), das Komplizenschaft verlangt. Die Menschen müssen ihren Beitrag zum Staat leisten, indem sie ihre Angehörigen in den Schützengräben opfern, an Massenkundgebungen zur Unterstützung des Krieges teilnehmen und gesellschaftlich anerkannte Handlungen ausführen, von der Anzeige eines Kollegen (oder eines Schülers, Lehrers oder Nachbarn), weil er sich gegen den Krieg ausgesprochen hat, bis hin zur Selbstzensur, die sich in Maßnahmen wie der präventiven Weigerung äußert, Bücher von Autoren zu verkaufen, die der Kreml als "ausländische Agenten" bezeichnet hat.

 

Der Totalitarismus dieser neuen Art von Regime ist noch nicht vollständig. Nicht jeder wird in die Schützengräben geschickt, und im Gegenzug für diese Gnadenerweisung des Staates verspricht der Durchschnittsbürger, die Legitimität des seit langem unersetzlichen Führers des Landes zu bestätigen. So lautete die Formel des Gesellschaftsvertrags zwischen der Gesellschaft und dem Staat - zumindest im zweiten Jahr der vom Kreml so genannten "Sonderoperation" gegen die Ukraine. Der Preis für den Kauf des trügerischen Seelenfriedens für die Menschen in Russland ist ein Wahlzettel, der am Wahltag in die Urne geworfen wird. Indem sie für Putin stimmen, versprechen sich die Menschen "Stabilität" und Freiheit von der Gefahr des Todes an der Front. Es gibt keine Garantie dafür, dass der Staat seinen Teil der Abmachung einhalten wird, aber die Öffentlichkeit zieht es vor, nicht über die Alternative nachzudenken. Im Moment kommt dieser Vertrag beiden Parteien zugute: sowohl den Behörden als auch der gehorsamen Mehrheit, die sich eine erlernte Gleichgültigkeit zu eigen gemacht hat.

 

Die Menschen, die im März für die Auffrischung von Putins Legitimität - und gleichzeitig für die Legitimierung seines Krieges - stimmen werden, sind in erster Linie diejenigen, die entweder sozial, wirtschaftlich oder politisch vom Staat abhängig sind. Außerdem umfasst die Wahlmehrheit viele ältere Menschen, die nicht Gefahr laufen, zur Armee eingezogen zu werden.

 

Die allgegenwärtige Totalität des Staates hat die Medien, Filme und das Theater durchdrungen. Er durchdringt den Buchmarkt, ändert die Regeln der russischen Sprache, indem er weibliche geschlechtsspezifische Berufsbezeichnungen als Zeichen der Sympathie für LGBT-Rechte abschafft, und hat sich sogar den Nachtclubs zugewandt. Das Verbot von Büchern von Bestsellerautoren wie Boris Akunin, Dmitry Bykov und Lyudmila Ulitskaya und die Versuche, den Zugang zur Abtreibung einzuschränken, sind verschiedene Stränge derselben Sache: Biopolitik, der Wunsch, individuelle Lebenspläne und die private Existenz eines Menschen zu kontrollieren, die Verstaatlichung seines Körpers, seiner Gedanken und seiner Seele. Der Körper geht dorthin, wohin das Militärrekrutierungsbüro ihn befiehlt; Ideen werden in Geschichtsprüfungen gemäß den neuen Schulgeschichtslehrbüchern zum Ausdruck gebracht; und ideologisch korrektes Verhalten wird den Menschen eingeflößt, indem Schülern verboten wird, in ihren Aufsätzen Bücher von "ausländischen Agenten" zu zitieren.

 

Dies ist eine Gesellschaft der Massen und des Gruppennarzissmus: Wir sind die Vereintesten, die Stärksten, die Besten. Das "grandiose Selbst" der Macht (um den Begriff des Philosophen Alexander Rubtsov zu verwenden)6 verwandelt sich 2022-2023 in ein kollektives "grandioses Wir", in dem der konformistische Teil der Gesellschaft mit sich selbst zufrieden ist.

 

Zuvor ging es um "wir und sie": die einfachen Menschen gegen diejenigen, die das Land regieren und ein Vermögen mit der Miete der Ressourcen verdienen. Jetzt ist die Struktur nicht mehr vertikal, sondern horizontal: "Wir" sind jetzt alle Russen, einschließlich Putin und die Behörden, während "sie" der Westen und die Ukraine sind. Natürlich wird der Feind entpersonalisiert. Feinde sind nicht wirklich Menschen, und deshalb können sie bekämpft, gedemütigt und getötet werden.

 

Eine Herrschaft der Negative

 

Dies ist ein Regime der negativen Identifikation ("wir sind nicht wie sie") und des negativen Konsenses ("wir sollten unseren eigenen Weg gehen und nicht den ausgetretenen Pfad der Zivilisation, denn wir sind anders und außergewöhnlich"), und es hat sich schon lange vor dem Februar 2022 entwickelt. Putin führt einen existenziellen Kampf mit dem Westen um Russlands eigene Identität. Um diese Identität zu definieren, braucht er ein ultrakonservatives ideologisches Mäntelchen. Diese Identität behauptet sich mit archaischen Begriffen (Größe des Territoriums) und archaischen Methoden (Expansion und Aggression).

In der Terminologie des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama werden Putin und sein Regime von der Megalothymie zerfressen: dem Bedürfnis, als den anderen überlegen anerkannt zu werden. Der Narzissmus des Führers verwandelt sich nun in einen Gruppennarzissmus der gehorsamen Mehrheit des Landes. "Der Gruppennarzissmus hat wichtige Funktionen", schrieb der deutsche Psychologe Erich Fromm in Die Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973). "Erstens fördert er die Solidarität und den Zusammenhalt der Gruppe und erleichtert die Manipulation, indem er an narzisstische Vorurteile appelliert. Zweitens ist es ein äußerst wichtiges Element, das den Mitgliedern der Gruppe Befriedigung verschafft, insbesondere denjenigen, die nur wenige andere Gründe haben, sich stolz und wertvoll zu fühlen "; Fromms Erklärung der Mechanismen der Massenstimmung, die für totalitäre Regime typisch sind, trägt viel dazu bei, zu erklären, warum Putin und seine Initiativen die Unterstützung der Massen haben: "Die eigene Gruppe wird zum Verteidiger von Menschenwürde, Anstand, Moral und Recht. Der anderen Gruppe werden teuflische Eigenschaften zugeschrieben; sie ist verräterisch, rücksichtslos, grausam und im Grunde unmenschlich. Die defensive Aggression wird stärker denn je, besonders in Kriegszeiten. Diese Art der Aggression ist ein sehr bequemes Werkzeug für die Behörden, vor allem in einer Situation, in der ihre Popularität stagniert (wie in den Jahren 2020-2021 zu beobachten war).

 

Die "Sonderoperation" begann mit der Logik, dass "unser Volk [angeblich ethnische Russen in der Ukraine] angegriffen wird", und wird unter dem Vorwand fortgesetzt, die Weltordnung wiederherzustellen. Der Weg zu dieser Welt(un)ordnung führt über den Krieg, denn das derzeitige russische Regime verfügt nicht über die weiche Macht, um sie auf andere Weise zu erreichen. Nach dem Beginn der "Sonderoperation" hat die Soft Power, genau wie das Regime, einen negativen Charakter angenommen: Putins Russland ist nicht wie der Westen (ein weiterer Aspekt der negativen Selbstidentifikation) und stellt sich daher als Anführer einer anderen illusorischen Konstruktion vor: der "globalen Mehrheit".

 

Dennoch hat Putin auf seine Weise das "Ende der Geschichte" herbeigeführt: Fukuyamas Konzept der dauerhaften Etablierung liberaler universalistischer Werte in der Welt nach dem Fall des Kommunismus. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev argumentiert, dass vom Titel von Fukuyamas Buch "Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch" nur der letzte Mensch und das hartnäckige Gefühl übrig bleibt, dass die Fundamente der etablierten und scheinbar stabilen Welt zerstört werden. Genau diese beunruhigenden Turbulenzen sind es, die es Putin ermöglichen, seine Macht zu demonstrieren: Nachdem er in Sachen Modernisierung und Aufbau von etwas Neuem besiegt wurde, hofft er nun, sich auf dem gegensätzlichen Feld der zerstörerischen Expansion und Demoderne zu beweisen.

 

Revolution und Autocoup

 

Solche Turbulenzen zu verursachen - die Grundlagen der Weltordnung in einer Art Revolution zu erschüttern - ist natürlich nichts Neues. Im heutigen russischen Vokabular hat das Wort "Revolution" eine deutlich negative Konnotation: Revolutionen sind heutzutage immer von der "bunten" Sorte und zerstören "Stabilität". Dennoch ist das, was dem Land - und der Welt - auf dem Höhepunkt von Putins Herrschaft widerfährt, fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Eintritt in die offene politische Arena, nichts weniger als eine Revolution. Nur ist es eine konservative, umgekehrte Revolution.

 

Die Errichtung der Franco-Diktatur in Spanien wurde mit den Begriffen der traditionalistischen Ideologie als "nationale Revolution und Kreuzzug" bezeichnet. Genau so wurden die Ereignisse in Deutschland in den 1930er Jahren definiert. In seinen Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit bezog sich der deutsche Schriftsteller Thomas Mann oft auf dieses Konzept, so auch in einem Brief an seinen Freund Albert Einstein am 15. Mai 1933: "Es ist meine tiefste Überzeugung, dass diese ganze 'deutsche Revolution' tatsächlich falsch und böse ist. Ihr fehlen alle Eigenschaften, die die Sympathie der Welt für echte Revolutionen gewonnen haben, so blutig sie auch gewesen sein mögen. In ihrem Wesen ist sie keine 'Erhebung', egal wie ihre Befürworter schimpfen, sondern ein schrecklicher Absturz in Hass, Rache, Mordlust und kleinbürgerliche Gemeinheit." Diese Art von "Revolution" bringt eine - von der Obrigkeit aufgezwungene - Vereinheitlichung des Bewusstseins und Handelns mit sich, die damals als "Gleichschaltung" bezeichnet wurde ("Homogenität", "Nivellierung", weitgehende Einbeziehung der Öffentlichkeit in die herrschende Ideologie, einheitliche Politik und Verwaltung mit Einschränkungen der Rechte derjenigen, für die die neuen Regeln nicht gelten).

 

Im Jahr 2020 gab es in Russland ein weiteres Ereignis, das in seinem Ausmaß mit einer Revolution vergleichbar ist: das Referendum zur Änderung der Verfassung und zur Rückstellung der Amtszeit des Präsidenten, wodurch Putin in diesem Jahr erneut kandidieren und möglicherweise bis 2036 an der Macht bleiben kann. Einige Kommentatoren bezeichneten diese Entwicklung als Staatsstreich - etwas, das unmöglich erscheint, da Putin und sein Team bereits an der Macht sind. Doch dafür gibt es einen Präzedenzfall: Der Putsch in der Sowjetunion im August 1991 wurde ebenfalls von Leuten in den Machtetagen in Gang gesetzt, richtete sich aber gegen das Staatsoberhaupt. Die willkürliche Änderung der Verfassung, um die Amtszeit der Regierung zu verlängern, unter Missachtung rechtlicher, politischer und (vielleicht am wichtigsten) moralischer Normen, ist ein klassischer Autogolpe oder Autocoup.

 

Tatsächlich war es dieses bizarre Referendum im Sommer 2020, das das Regime entscheidend geprägt hat, das am 24. Februar 2022 die "Sonderaktion" einleitete. Die Abstimmung über die Änderung des Grundgesetzes des Landes war praktisch eine weitere "Wahl", die es dem nur zwei Jahre zuvor gewählten Präsidenten ermöglichte, bis 2036 an der Macht zu bleiben.

 

Das Putin-Regime, das, wie alles Totalitäre, mächtig und formalisiert erscheint, verliert in Wirklichkeit seine institutionelle Grundlage. Gesetze - auch solche, die Teil des autoritären Unterdrückungssystems sind - werden willkürlich angewendet. Beamte und Vollzugsbeamte handeln nach den Entscheidungen, die sie sich vorstellen, dass eine einzige Person an ihrer Stelle entscheiden würde: Das System besteht praktisch aus einer Armee von Miniatur-Putins. Anstatt die Grundlagen der Staatlichkeit zu stärken, werden sie zerstört. Anstatt Institutionen zu bilden, werden sie ausgehöhlt und deinstitutionalisiert. Es gibt zwar Gesetze, aber der Staat, die Ermittlungsbehörden und Gerichte können sie nutzen, um extralegale Kontrolle und Gewalt auszuüben.

 

Der deutsche Jurist Ernst Fraenkel, dessen Werk Der duale Staat 1941 veröffentlicht wurde, beschrieb ein ähnliches Phänomen, bei dem es neben dem "normativen Staat", der offiziell bestehen bleibt, einen "Prärogativstaat" gibt, der nach eigenem Ermessen Gewalt anwendet, ohne das übliche normative System über ein Lippenbekenntnis hinaus zu beachten.16 Dieser "duale" Ansatz zur Identifizierung des "Feindes" und zu seiner Bekämpfung wurde in einem Fall sogar von einem hochrangigen russischen Strafverfolgungsbeamten geäußert: "Diese Leute [ein Schüler, der die 'Sonderaktion' kritisiert hatte] sind unsere Feinde. Sie begehen vielleicht nicht direkt ein Verbrechen, aber Leute wie sie sind unser Ziel. Und dieses Ziel ist das gleiche für die Sicherheitsbehörden, die Polizei und die Staatsanwaltschaft.

 

Auch diese Missachtung des Gesetzes ist nichts Neues. Die Begründung lautet: Wir sind nicht nur nicht wie andere, wir leben auch unter außergewöhnlichen "Kriegsbedingungen". Nachdem sie sich diese negative Identität ausgedacht hatten, machten sich Putin und seine Elite daran, sie der Gesellschaft aufzudrängen. Die "Sonderoperation" ist nichts anderes als ein Kampf um eine neue, künstliche Identität, die durch repressive nationale Gesetze und eine territoriale Ausdehnung, die gegen internationales Recht verstößt, bekräftigt wird. Die gemeinsame Sache, mit der diese Identität gefestigt werden soll, manifestiert sich derweil auf die lächerlichste Art und Weise: Die Menschen finden ihre Einheit in gemeinsamen Aktivitäten wie dem Weben von Tarnnetzen, was allen Ernstes als "All-Volks-Bewegung "bezeichnet wird.

 

Eine neue Sprache

 

Um diese militärisch-patriotische Realität zu beschreiben und zu entschuldigen, braucht es eine neue Sprache: natürlich eine mit heroischem Pathos und anklagendem Ton. Dieser soziale Dialekt ist ebenfalls von der Logik der negativen Identität geprägt und verunglimpft dementsprechend "Verräter", "schlechte Äpfel" und "ausländische Agenten" und ahmt unwillkürlich die Sprache des "Kampfes gegen die Kosmopoliten" der späten 1940er und frühen 1950er Jahre nach. Die Begründung für die Verschärfung der Gesetze gegen "ausländische Agenten" folgt dem gleichen Muster wie damals, wie die Worte von Andrei Zhdanov, dem Ideologen des späten Stalinismus, zeigen: "Der Plan, uns auf dem Schlachtfeld zu besiegen, ist gescheitert. Jetzt wird sich der Imperialismus mit zunehmender Beharrlichkeit auf eine ideologische Offensive gegen uns konzentrieren. " Vergleiche diese Aussage mit einem Auszug aus einer Präsidentenrede im Jahr 2023: "Aber auch sie erkennen, dass es unmöglich ist, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen und führen immer aggressivere Informationsangriffe gegen uns durch.“

Das Problem ist, dass diese aggressive neue Sprache nicht nur zu Propagandazwecken verwendet wird. Sie wird auch für die praktische Anwendung der Strafverfolgung genutzt. Die Anklage gegen den Menschenrechtsaktivisten Oleg Orlow wegen "Diskreditierung der Streitkräfte" beinhaltete zum Beispiel "ideologische Feindseligkeit gegenüber traditionellen russischen geistigen, moralischen und patriotischen Werten " - eine fantastische Formulierung, die keine rechtliche Grundlage hat.

 

Die neue Sprache erlaubt es denjenigen, die sie verwenden, nicht nur zu zeigen, dass sie loyale Bürger sind. Sie ermöglicht es ihnen auch, ihre eigenen Feinde zu entlarven, wie zum Beispiel im Januar 2024 beim Machtkampf innerhalb des Philosophischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, als eine Gruppe von Anhängern der "souveränen Philosophie" ihre Kollegen des "Kotau vor dem Westen" beschuldigte und damit erneut Leitmotive aus dem stalinistischen Narrativ der späten 1940er Jahre wiederholte. Der Begriff der "Anbetung alles Fremden" wurde erstmals 1946 erwähnt, während die Bezeichnung "Kosmopoliten" im selben Jahrzehnt in den Sprachgebrauch einging. Der letztgenannte Begriff wurde durch einen Artikel in der Prawda vom 28. Januar 1949 offiziell, in dem eine "antipatriotische Gruppe von Theaterkritikern" zu "Trägern von etwas zutiefst Abscheulichem und Feindlichem für den sowjetischen Menschen, dem wurzellosen Kosmopolitismus" erklärt wurde, der "den ideologischen monolithischen Charakter der sowjetischen Gesellschaft" zerstöre.23 Häufig anzutreffende Motive sind Monolithizität, Konsolidierung, Einheit und die Säuberung derjenigen, die sich nicht der allgemeinen Masse angeschlossen haben.

"Die spezielle Militäroperation hat unsere Gesellschaft in einer noch nie dagewesenen Weise geeint und ihre Säuberung von Menschen erleichtert, die sich nicht als Teil des Russischseins, der russischen Geschichte und der russischen Kultur fühlen", sagte Außenminister Sergej Lawrow auf einer Pressekonferenz am 19. Januar 2024. Ein solcher Diskurs ist wiederum typischer für die späte Stalinzeit als für die spätere, vergleichsweise "vegetarische" Periode des "entwickelten Sozialismus": Nach der späten Stalin-Ära war kaum noch von "Säuberungen" die Rede, einem Markenzeichen totalitärer Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und ihrer Ideologen. Jahrhunderts und ihrer Ideologen. 1933 schrieb beispielsweise der deutsche Politik- und Rechtstheoretiker Carl Schmitt über die "Säuberung" von "fremden Elementen" aus dem öffentlichen Leben.25 Im russischen Narrativ sind Ausdrücke wie "der existenzielle Charakter von Bedrohungen" und "existenzielle Konfrontation" beliebt geworden. In Der Begriff des Politischen schrieb Schmitt: "Der Feind ist in einem sehr intensiven Sinne existenziell anders und fremd. In extremen Fällen sind existenzielle Konflikte mit ihm möglich.

 

In diesem Diskurs ist die Quelle der Verschwörung gegen Russland der Westen. Sergej Naryschkin, Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, sagte in einem Interview: "Die Westler dachten, sie könnten mit Russland genauso umgehen und haben uns sogar mehr oder weniger offen mit einer Revolution und dem Sturz der rechtmäßig gewählten Regierung gedroht". Diese Ablehnung jeder Art von westlichem Einfluss ist so alt wie die Berge. Jahrhundert (wie Dmitry Travin, ein Forscher der russischen Modernisierungsgeschichte, feststellt, blieb damals "die Aufklärung eine tödlich gefährliche Angelegenheit " und wurde 1917 wieder sichtbar, als konservative Patrioten Gerüchte in die Welt setzten, die Revolution sei das Werk von "Liberalen und Abgeordneten der Staatsduma, die von Lord Buchanan (dem britischen Botschafter) mit Handbüchern zu diesem Thema versorgt wurden".

 

Jeder Autoritarismus, der die Worte gefunden hat, um eine Ideologie zu formulieren, und der dazu neigt, sich in eine Art halbtotalitäres oder neototalitäres System zu verwandeln, ist bestrebt, wenn schon nicht sein Volk umzugestalten, so doch zumindest ein imaginäres anthropologisches Modell zu präsentieren. Für das Putin-Regime ist dieses (buchstäbliche) Aushängeschild ein hart aussehender junger Mann in Militäruniform auf einem Plakat, der die Menschen auffordert, für ihr Land zu kämpfen. Es ist ein Archetyp, der sich kaum von den klassischen totalitären Helden der Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheidet: Die Plakate und Bilder sind erschreckend identisch. Die herrischen Posen des beliebten "patriotischen" Sängers Shaman mit seinem weißblonden, arischen Aussehen und seiner schwarzen Lederkleidung erinnern dagegen eher an die 1930er Jahre. Er ist ein perfektes lebendes Beispiel für totalitäre Kunst.

 

Shaman nutzt das Medium des Popsongs, um den Massen eine negative Identität ("Ich bin Russe, trotz der ganzen Welt") und den Kult des Heldentodes zu vermitteln: "Für die, die ihren Himmel gefunden haben und nicht mehr unter uns sind / Lasst uns aufstehen und ein Lied singen." Patriarch Kirill nutzt religiöse Mittel, um seiner Herde dieselbe Idee zu vermitteln: "Die Kirche erkennt an, dass jemand, der aus Pflichtgefühl, aus dem Bedürfnis heraus, seinen Eid zu erfüllen, seiner Berufung treu bleibt und das tut, was ihm seine Pflicht auferlegt, und wenn er dabei getötet wird, dann begeht er zweifellos eine Handlung, die einem Opfer gleichkommt. Sie opfern sich für andere. Deshalb glauben wir, dass dieses Opfer alle Sünden abwäscht, die eine Person begangen hat.“

 

Der neue Mensch hält "traditionelle Werte" hoch und begrüßt es, für das Vaterland zu sterben. Er hat viele Kinder, denn große Familien versorgen den Staat mit vielen neuen Soldaten und Mitarbeitern des militärisch-industriellen Komplexes, um Feinde im In- und Ausland erfolgreich zu vernichten. Der Feind ist eine weitere klassische Trophäe des autokratischen Genres, sei es der "Volksfeind", der "wurzellose Kosmopolit" oder der "ausländische Agent". Anhand dieses Kriteriums und der ausgelöschten Erinnerung an Stalins Repressionen kann das derzeitige Regime als neostalinistisch bezeichnet werden.

 

Im zweiten Jahr des Krieges haben viele öffentliche oder quasi öffentliche Persönlichkeiten in Bereichen wie Kultur und Bildung für sich entschieden, dass dieses harte Regime mehr oder weniger dauerhaft ist. Es reicht also nicht aus, sich anzupassen, sondern man muss sich auch ergeben, d.h. Putin und den Krieg offen unterstützen. Dieses Gefühl hat sich während des Präsidentschaftswahlkampfes besonders verstärkt, denn für viele ist die öffentliche Unterstützung eine Garantie dafür, dass sie ihre berufliche Karriere fortsetzen können und nicht Gefahr laufen, zum Feind erklärt zu werden. Es ist zum Teil eine Folge der Ermüdung durch die Unsicherheit. Ähnliche Prozesse fanden 2014 statt, als selbst viele von denen, die an den Anti-Putin-Protesten von 2011-2012 teilgenommen hatten, beschlossen, dass es keinen Grund gibt, sich der kollektiven Euphorie über die Annexion der Krim zu widersetzen, und dass sie sich einfach den jubelnden Massen anschließen sollten. Auf diese Weise ist es einfacher zu überleben.

 

Paläomoderne und Parasiten

Putin hat diesen Krieg begonnen, um die Weltordnung zu verändern und die Welt zu zwingen, nach seinen Regeln zu leben. Um das zu erreichen, musste er sein Land und seinen geopolitischen Einflussbereich in einem Zustand der "Paläomoderne" halten, um den Begriff des Kulturwissenschaftlers Alexander Etkind zu verwenden. Diese "Paläomoderne" basiert auf rückläufigen Energieformen, die "Ressourcenkolonisierung, Siedlerimperialismus und Kriegskapitalismus" erfordern, was die Bereitschaft Putins - einer Figur der alten Schule - zur territorialen Expansion erklärt. Das alte Russland entwickelte sich anorganisch, durch interne Kolonisierung, und die Notwendigkeit, die imperial kolonisierten Gebiete zu schützen, in denen sich die wichtigen Öl- und Gasvorkommen befanden, führte zu einer defensiven Mentalität der Elite und einem Kult um die eigene Sicherheit. Die ultrakonservative national-imperialistische Ideologie wird als Rechtfertigung für diesen Kult benutzt. Putin und sein Team sind ein Produkt dieser "Paläomoderne". Die Welt bewegt sich in Etkinds Worten auf die "Gaiamodernität" zu, die einen Übergang zu anderen Energiearten (und Energieeinsparungen) beinhaltet, um sicherzustellen, dass es nach uns keine globale Sintflut geben wird.

 

Indem er seine eigene Vision von der Welt verteidigt, schützt Putin das auslaufende Entwicklungsmodell, das einen totalitären und imperialen politischen Rahmen erfordert. Sein Krieg ist ein Kampf mit der Zukunft um die Vergangenheit: ein Kampf ohne ein klar definiertes strategisches Ziel. Die Lähmung bei der Festlegung von Zielen und die Vernachlässigung von Russlands zukünftigem Humankapital sind Teil der grundlegend taktischen Politik des russischen Regimes.

In einem anderen seiner Werke, Nature's Evil, erklärt Etkind die Logik der Bildung eines Staates vom Typ Putin, der nun eine ständige Bedrohung durch eine externe Expansion erzeugt. Anstelle von Institutionen, die sich mit der Produktion von Arbeit und Wissen befassen, entsteht ein Sicherheitsapparat, der notwendig ist, um Transportwege und Geldflüsse zu schützen. Gleichzeitig entwickelt sich ein bürokratisches System, das die Materialströme umverteilt und dabei einen Teil für sich behält. Während der "Sonderoperation" begann der Staat, Rohstoffrenten für die Herstellung von Waffen und den Kauf von Arbeitskräften für die Kämpfe und die Loyalität des Teils der Bevölkerung, der direkt oder indirekt am Krieg beteiligt war, zu verwenden. Inzwischen wird ein immer geringerer Teil dieser Miete für Humankapital wie Gesundheitsversorgung und Bildung verwendet (ausgenommen die Indoktrination neuer Generationen mit der Ideologie des Putinismus).

 

Im Laufe des Vierteljahrhunderts seiner Herrschaft hat Putin eine parasitäre Elite geschaffen, die nicht von der Bevölkerung des Landes, sondern vom Staat und der Verteilung der Renten abhängig ist. Indem das Regime einen großen Teil der Bevölkerung des Landes von staatlichen Geldern und Arbeitsplätzen abhängig gemacht hat, hat es eine kritische Masse von kontrollierten und gleichgültigen Menschen geschaffen, deren Ziel es ist, einfach zu überleben, anstatt sich weiterzuentwickeln, und die deshalb nicht ernsthaft über die Zukunft nachdenken. Die neue Mittelschicht besteht nicht aus Unternehmern oder kreativen Fachleuten, sondern aus einer wachsenden Zahl von Silowiki (Sicherheitsbeamten) und Bürokraten, deren Einkommen und sozialer Status vollständig vom Staat abhängen.

 

Wie der Psychologe Alexander Asmolov beobachtet hat, braucht die Ideologie der Sicherheit eine permanente Krise. Es ist unmöglich, sich zu entspannen; das Gefühl von Instabilität und Unruhe - und die Angst vor einem Weltkrieg - sind permanent, aber der Alltag verläuft, mit Ausnahme der Gebiete an der ukrainischen Grenze, äußerlich so, als gäbe es gar keinen Krieg. Für die meisten Russen sind die Kämpfe nicht mehr als eine unangenehme Begleiterscheinung ihrer Existenz. Die Normalität einer Dauerkrise und eines Krieges im Hintergrund sowie die Vorbereitung auf eine sofortige Mobilisierung aus einem demobilisierten Staat haben einen Großteil der russischen Bevölkerung erstaunlich anpassungsfähig an stressige Umstände gemacht. Das bedeutet aber auch, dass diese Umstände Gleichgültigkeit erzeugen, denn Gleichgültigkeit ist auch ein Verteidigungsmechanismus: ein Weg des sozialen Überlebens in einer Situation, in der der Horizont für Lebenspläne sehr kurz ist.

 

Es ist unmöglich vorherzusagen, wie lange dieses Überlebensmodell Bestand haben wird. Das Regime glaubt, dass die Zeit auf seiner Seite ist, was bedeutet, dass die "Sonderoperation" fortgesetzt werden kann, zumal sie zusätzliche Legitimität erlangen wird, wenn das russische Volk erneut für Putin stimmt - und damit für seinen permanenten Krieg. Nikolai Patruschew, Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates und einer der engsten Verbündeten des Autokraten, hat gewarnt, dass "die Vereinigten Staaten, die NATO und ihre Satelliten das Kiewer Nazi-Regime und verschiedene Arten von Söldnern benutzen, um einen Stellvertreterkrieg gegen unser Volk und unser Land zu führen, den die angelsächsische Welt auch nach dem Ende der aktiven Kampfhandlungen im Konflikt in der Ukraine nicht beenden wird".

 

Das bedeutet, dass Putin bereit ist, weiterzumachen. Im eigenen Land hat das Regime alle Mittel, die es braucht, um den Krieg an der zweiten Front weiterzuführen: den Krieg gegen die eigene Zivilgesellschaft. Dennoch gibt es weiterhin Widerstand gegen das Regime und die Nachfrage nach einer Antikriegs- und Anti-Putin-Initiative. Das wurde deutlich, als trotz der vollständigen Unterdrückung alles Lebenden im Land zwei unabhängige Anti-Kriegs-Präsidentschaftskandidaten auftraten: Ekaterina Duntsova (aus dem Nichts) und Boris Nadezhdin (aus der fernen liberalen Vergangenheit). Diese beiden Persönlichkeiten und vor allem die Unterschriftensammlung für Nadeschdins Kandidatur wurden zu einem Barometer für die Nachfrage nach einer demokratischen Alternative. Da die Menschen nicht auf die Straße gehen konnten, um zu protestieren, standen sie bei eisigen Temperaturen im ganzen Land Schlange, um den einzigen Antikriegs-Präsidentschaftskandidaten (nach dem Ausschluss von Duntsova) mit ihrer Unterschrift zu unterstützen. Nadeschdin wurde schließlich auch von der Kandidatur ausgeschlossen, aber die Episode zeigte, dass der Kreml ihn nicht ernst genommen hatte, was bedeutet, dass entweder seine Analyse die Forderung nach einer Alternative nicht registriert hatte oder er einfach nicht glaubte, dass sie sich unter solchen Umständen der vollständigen repressiven Kontrolle über das soziale und politische Feld auch nur theoretisch manifestieren könnte. Die Menschen schwiegen, aber sobald sich die Gelegenheit ergab, das Regime auszuschalten, taten sie es.

 

Der Tod des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalny am 16. Februar in einer arktischen Gefängniskolonie hat die Reste der russischen Zivilgesellschaft erschüttert, aber angesichts der harten Repressalien, mit denen die Menschen nun konfrontiert sind, war keine Protestaktion per se möglich. Die einzige Möglichkeit, ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, bestand darin, Blumen an Denkmälern für die Opfer politischer Repressionen niederzulegen, um den Mann zu ehren, der eine klare Alternative zu Putin darstellt. Die Behörden sahen dies zu Recht als einen Akt des Widerstands an und hinderten die Menschen daran, zu diesen Denkmälern zu gelangen, was einmal mehr die direkte Nachfolge des Stalin-Regimes demonstrierte.

 

In den Tagen nach Nawalnys ungeklärtem Tod wurde viel darüber diskutiert, ob dies ein Wendepunkt in der politischen Geschichte ist. Die Antwort ist nein. Es gab bereits viele solcher Momente: die Annexion der Krim im Jahr 2014; die Verfassungsänderungen im Jahr 2020, die Putins Machterhalt ermöglichten, und die Vergiftung Nawalnys mit einem Nervengift im selben Jahr; die Schließung von Memorial im Jahr 2021, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Bewahrung des Gedenkens an die Opfer der stalinistischen Unterdrückung einsetzt; und natürlich der Beginn der "Sonderoperation" im Jahr 2022.

 

Der Kreml wollte die Gesellschaft monolithisch und konsolidiert machen, aber er hat nur Doppeldenken und eine erlernte ausweichende Gleichgültigkeit gefördert. Es ist möglich, dass die Ressourcen für die nächsten Jahre ausreichen, um ein Regime über Wasser zu halten, das nach dem Prinzip "après nous, le deluge" lebt. Aber eine Existenz, die auf Bajonetten und Polizeiknüppeln beruht, kann niemals bequem sein. Ebenso wenig kann eine nationale Konsolidierung um den Anführer, die auf einer negativen Prämisse - dem Hass auf die zivilisierte Welt und der Distanzierung von ihr - beruht, jemals auch nur annähernd stabil sein.

bonus song propaganda-Song shaman

Oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh

Oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh

 

[Strophe 1]

Ich atme diese Luft ein

Die Sonne schaut mich vom Himmel an

Ein freier Wind weht um mich herum

Er ist genau wie ich

Und ich will nur lieben und atmen

Und ich will nichts anderes

Ich bin wer ich bin und niemand kann mich brechen

Denn...

 

(Refrain)

Ich bin Russin. Ich werde bis zum Ende kämpfen

Ich bin ein Russe, in mir fließt das Blut meines Vaters, hey-hey

Ich bin ein Russe und ich bin glücklich damit

Ich bin Russe, um die ganze Welt zu ärgern

 

(Post-Refrain)

Oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh

Ich bin ein Russe

Oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh

[Strophe 2]

Dieses Lied fliegt in den Himmel

Und es ruft mich, ihm zu folgen

Und mein Herz brennt in mir

Es leuchtet mir den Weg nach Hause

Wo ich nur lieben und atmen will

Und ich will nichts anderes

Ich bin, wer ich bin, und niemand kann mich brechen

Weil...

 

(Refrain)

Ich bin Russe. Ich werde bis zum Ende kämpfen

Ich bin ein Russe, in mir fließt das Blut meines Vaters, hey-hey

Ich bin ein Russe und ich bin glücklich damit

Ich bin Russe, um die ganze Welt zu ärgern

 

(Post-Refrain)

Oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh

Ich bin ein Russe

Oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh

 

[Brücke]

Ich bin ein Russe. Ich werde bis zum Ende kämpfen

Ich bin ein Russe, in mir fließt das Blut meines Vaters

 

(Refrain)

Ich bin ein Russe, und ich bin glücklich mit dieser Tatsache

Ich bin ein Russe, um die ganze Welt zu ärgern

 

Ich bin ein Russe

Aus einem text zu shaman aus der nzz

In Songs wie «Ja russkij» (Ich bin Russe) oder «Moja Rossija» (Mein Russland) besingt Shaman Vögel und Sterne, die Sonne oder göttliche Augen. Selber bleibt der Mann in schwarzem Leder, der stets ein Holzkreuz am Hals trägt, freilich fest auf dem Boden, dem russischen. Die überhöhte Metaphorik dient ihm zur patriotischen Verklärung – als würde sich Russland von oben betrachtet allen Widrigkeiten zum Trotz als gelobtes Land erweisen.

 

Die Songs von Jaroslaw Dronow alias Shaman haben es Putin angetan. Jedenfalls zählt der 31-jährige Sänger heute zu den Günstlingen des russischen Regenten. Dabei ist schwer zu eruieren, ob der Künstler von langer Hand zur Galionsfigur geformt wurde oder ob er sich selbst der Putin-Propaganda angedient hat mit seinem forcierten Patriotismus.

 

Er habe das Lied kurz zuvor in einem für ihn neuen Stil komponiert, hat der Musiker auf seiner Website zu Protokoll gegeben. Es sei wie eine göttliche Eingebung gewesen. Thematisch inspiriert hätten ihn dazu die Helden des Grossen Vaterländischen Kriegs, wie der Zweite Weltkrieg in Russland bis heute genannt wird. «Wir werden die russischen Helden bis ans Ende der Zeit in unseren Herzen

 

Der Gesang zieht weitere Kreise im Resonanzraum der russischen Seele: vom Sieg ist die Rede, von Opfern und vom Sterben für die Freiheit. Deshalb wohl hoffte das Regime, mit dem Song sei eine nationalistische Euphorie zu wecken in der russischen Bevölkerung, die anfangs mehrheitlich ratlos und apathisch auf die militärische Perversion des Regimes reagierte.

 

Im Unterschied zu Stalins Personenkult bringt Putins Propaganda keine eigene Kunst, kein geschlossenes ästhetisches System hervor. Es gibt kein «Gesamtkunstwerk Putin». Dafür versucht sich der Putinismus alles Russische anzueignen, was ihm nützlich sein könnte. In dieses Programm passt auch Shaman. Um das Massenpublikum anzusprechen, mischt er seine Schlager mit Anklängen an Volkslieder, Estrade-Hits, Kirchenmusik, Chanson und Pop.

 

Das Regime hat es nicht bei der Verehrung und Förderung von Shaman belassen, der 1991 und also im Gründungsjahr der Ukraine geboren wurde. Es hat seine Songs in neun Videos auf eigene Weise interpretiert. In einem staatlich produzierten Clip wird «Vstanem» von prominenten Schlagersängerinnen und -sängern aus ganz Russland intoniert. Dabei werden auch heroische Sequenzen aus dem heutigen Soldaten-Alltag ins Video montiert.

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Stehen wir vor dem Dritten Weltkrieg_ Ei
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