
Ein Online-Seminar des Institutes für Ökumenische Studien der Ukrainischen-Katholischen Universität in Lwiw
Bild: "Die sich Abwandten", Aquarell zum russischen Krieg in der Ukraine, Danylo Movchan
Einleitung
Liebe Freundinnen und Freunde, herzlich willkommen zu unserem internationalen Seminar über die Theologie der Trauer und unser ökumenisches Engagement in diesem Bereich! Das Seminar versteht sich als „Laboratorium für eine ökumenische Theologie der Trauer”. Es wurde vom Institut für Ökumenische Studien mit Unterstützung unserer niederländischen Freunde organisiert.
Das Format unseres Seminars ist besonders. Wir sitzen zwar im Konferenzsaal der Theologischen Fakultät der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg, und die Veranstaltung wird auch über Zoom übertragen.
Die Arbeitssprache des Seminars ist Englisch. Fünf Referentinnen und Referenten werden ihre Beiträge innerhalb von 15 bis 20 Minuten vorstellen.
Nach jedem Redner gibt es eine kurze Gelegenheit für Fragen und Antworten. Am Ende der Vorträge werden wir Zeit für eine Diskussion im Rahmen dieses Seminars haben. Wir werden versuchen, einige kurze Antworten zu geben bzw. einige Anregungen und Ideen für eine weitere, vertiefte Auseinandersetzung mit theologischen und pastoralen Fragen im Kontext von Leid und Trauer aus christlicher Perspektive zu geben.
Die übergreifende Frage, der wir uns stellen wollen, lautet: „Wo ist der allmächtige Gott, wenn Menschen leiden?” Im Einzelnen werden wir uns mit folgenden Fragen beschäftigen:
Warum lässt Gott menschliches Leid zu? - Wie können wir nach den schrecklichen Massakern in Butscha, Irpin oder anderen ukrainischen Städten und Dörfern noch an Gott glauben? – Wie können wir Gottes Gegenwart inmitten von Leid und Trauer erkennen? Wo ist Gerechtigkeit, wenn der Starke den Schwachen missbraucht? Wie können kirchliche Gemeinschaften Menschen in Trauer und Schmerz begleiten und ihnen gleichzeitig Hoffnung im Licht des Evangeliums vermitteln? Wie können Kirchen einen integrativen pastoralen Ansatz entwickeln, der auf tiefe Traumata und Verluste eingeht? Wie kann ökumenisches Engagement unsere Antwort als Kirchen auf Leid und Ungerechtigkeit stärken?
Im Kontext der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine haben all diese Fragen an Dringlichkeit gewonnen. Die Realität von Leid und Verlust erfordert eine zutiefst mitfühlende und fundierte Antwort vonseiten der Kirchen und Glaubensgemeinschaften. In unseren Diskussionen werden wir uns auf theologische Reflexion, pastorales Engagement und ökumenische Solidarität als Mittel zur Bewältigung dieser anhaltenden Tragödie konzentrieren, in der Glaube, Hoffnung und Gerechtigkeit aufrechterhalten werden müssen. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, haben wir namhafte Referentinnen und Referenten aus der Ukraine und dem Ausland eingeladen. Sie vertreten verschiedene christliche Traditionen und werden uns eine Theologie der Trauer und ihrer pastoralen Dimension vorstellen.
Wir freuen uns, einen hochrangigen Gast aus den Vereinigten Staaten begrüßen zu dürfen. Er ist in der Ukraine kein Unbekannter. Er hat das Land mehrfach besucht und war vor unserem Seminar in verschiedenen ukrainischen Städten wie Odessa und Winnyzja, wo er zwei ukrainischen Gemeinden pastorale und missionarische Dienste geleistet hat. Ich bitte Reverend Roger Murchison, Doktor der Theologie vom Princeton Theological Seminary, das Wort zu ergreifen. Er ist Baptistenprediger und Autor mehrerer Bücher. Das bekannteste davon ist ein Leitfaden für die Trauerbewältigung, der durch die Phasen der Trauer und des Schmerzes nach einem Verlust führt. Wir freuen uns darauf, von Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen im Umgang mit Trauer und Verlust zu hören.
Pfarrer Roger Murchison, Doktor der Theologie, Princeton Theological Seminary – Baptistenpfarrer und Autor von „Guide for Grief: Help in Surviving the Stages of Grief and Bereavement after a Loss“ (Leitfaden für Trauer: Hilfe beim Überstehen der Phasen der Trauer und des Schmerzes nach einem Verlust).
Wie könnte eine Theologie der Trauer aussehen? Was meint diese Bezeichnung überhaupt?
In der Bibel finden wir einiges, das uns bei der Entwicklung einer speziellen Theologie der Trauer helfen könnte. Deutlich wird dies bereits in einigen Versen des 4. Kapitels des 1. Briefes an die Thessalonicher, in denen Paulus sagt: „Ich möchte euch, meine Freunde, nicht im Unklaren lassen über diejenigen, die bereits tot sind. Ihr solltet nicht in Trauer versinken wie diejenigen, die keine Hoffnung oder keinen Glauben haben. Denn wenn wir glauben, dass Jesus Christus gestorben und auferstanden ist, wird Gott einmal diejenigen, die glauben, wieder zum Leben erwecken.“
Wenn wir die folgenden Worte hören, fragen wir uns vielleicht, ob Paulus uns angesichts unseres Leidens in einem Krieg immer noch dasselbe sagen würde, nämlich dass Christen anders trauern sollten als Nichtchristen.
Ja, ich glaube, er würde noch immer dasselbe sagen. Seiner Empfehlung nach sollte das Fundament einer Theologie der Trauer unser christlicher Glaube sein. In seinem Brief an die Thessalonicher spricht Paulus von einer engen Beziehung zwischen Glaube und Trauer. Darüber habe ich bereits einiges in meinem Beitrag „The Grief/Faith Relationship and the Disabling Effect of Unresolved Grief” (Die Beziehung zwischen Trauer und Glaube und die behindernde Wirkung von ungelöstem Leidensschmerz) geschrieben, der kürzlich in der Zeitschrift Eastern European Theological Reflections erschienen ist (siehe Anhang). Darin habe ich über diese besondere Beziehung von Trauer und Glauben, ihre wichtige Bedeutung und deren mögliche Auswirkungen auf den Trauerprozess einiges mehr gesagt.
Die wichtigste Aussage meines Textes ist, dass ich allen, die bereits Christen sind und ihren Glauben im Alltag umsetzen sowie seine positiven Auswirkungen in ihrem Leben erfahren möchten, empfehle, nicht zu vergessen, dass sich unser Glaube noch wandeln sollte – tiefer und weiter –, damit er uns auch in sehr schwierigen Zeiten wirklich tragen kann.
Eine nähere Beschreibung der Beziehung von Glauben und Trauer befindet sich auch in meinem Buch „Guide for Grief“ (Leitfaden für die Trauer). Dort habe ich zwei leicht merkbare Sätze formuliert: „Erlaube deinem Glauben, dass er deine Trauer beeinflusst. Und erlaube deiner Trauer, deinen Glauben zu beeinflussen.“ Der persönliche Glaube sollte Christen also in der Trauer helfen und sich als Vorteil erweisen, da sie in ihrem persönlichen Glauben die Hoffnung kennen, die ihnen in ihrem eigenen Leiden die notwendige Kraft gibt. Dies wird heute auch durch die Ergebnisse einiger Forschungsberichte bestätigt, die die positive Wirkung eines lebendigen christlichen Glaubens auf den Trauerprozess aufzeigen. Im Grunde genommen ist es dasselbe, was Paulus den Thessalonichern schon geschrieben hat. Der Glaube sollte sich für einen Christen während seines Trauerprozesses also als Vorteil erweisen, da er die Hoffnung kennt, die ihm Kraft gibt.
Unsere Kenntnis der besonderen Beziehung zwischen Glaube und Trauer aus dem 1. Thessalonicherbrief sollte deshalb am Beginn einer Theologie der Trauer stehen. Sie hilft uns im Gemeindedienst, wenn wir Menschen in ihrer Trauer begleiten und ihnen Hoffnung geben möchten. Zunächst müssen wir aber ihr Leiden verstehen, bevor wir ihnen sagen können, dass Christus unsere Hoffnung ist und uns auch in unserem Leiden nicht alleine lässt. Es müsste also eine Theologie sein, die uns lehrt, dass wir zunächst das Leid eines Menschen verstehen sollten, um ihm dann eine Perspektive zu geben, die ihm die christliche Hoffnung zeigt. Wir sollten einem leidenden Menschen nicht einfach nur sagen, dass Christus unsere Hoffnung ist, sondern ihn während seines Trauerprozesses auch praktisch so begleiten, dass sich unsere Hoffnung auf seine Trauer auswirkt. Unsere Theologie sollte für uns nicht nur eine theoretische Sache sein, sondern auch ein konkretes Handeln, das unsere Hoffnung zeigt.
Dieses Verständnis birgt jedoch auch Gefahren. Wenn nämlich das, was Paulus gesagt hat – dass Christen nicht wie Ungläubige trauern sollten – dazu führt, dass wir glauben, ein Gläubiger sollte in allen Situationen seines Lebens die Hoffnung auf Jesus Christus als seinen Retter und Erlöser haben, auf den er sich verlassen kann. So einfach ist es bei niemandem von uns, wenn wir ehrlich sind. Viele Christen sehen auch keinen Zusammenhang zwischen ihrer Trauer und ihrem Glauben. Das erlebe ich oft in meinen Trauerseminaren, die ich regelmäßig in Kirchengemeinden durchführe.
Deshalb ist für mich ein weiterer wichtiger Text für eine biblische Theologie der Trauer die Geschichte der Auferweckung des Lazarus in Johannes 11 mit den uns allen bekannten Worten Jesu: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Jesus Christus ist also Trost und Hoffnung für Lebende und Verstorbene. Der Auferstehungsglaube sollte unsere Trauer kleiner machen und sich als größer als all unser Leiden erweisen.
Unser Glaube sollte aber bei uns keine statische Sache sein. Wenn wir einmal zum Glauben gekommen sind, sollte nicht einfach etws bleiben, das nicht für uns abgeschlossen ist, sondern sich im Laufe unseres Lebens auch wandeln können. Es geht dabei um unsere Bereitschaft, uns in in jeder Situation des Lebens, die anders ist, uns auch wieder neu und anders auf uns einzulassen.
Könnte unser Leiden also eine Gelegenheit sein, unseren Glauben reifen zu lassen? Ich glaube ja, wenn wir nicht nur das sehen, was allen in der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus auffällt – das erste Wunder, dass der Tote lebendig aus dem Grab kam –, sondern noch genauer hinsehen und auch das andere, eigentlich viel größere Wunder erkennen. Als Martha, die Schwester von Lazarus, erkannte, dass Jesus die Auferstehung und das Leben für uns alle ist. Dieses Wunder zeigt uns die für uns von Bedeutung ist.
Martha gab ihrer Trauer die Gelegenheit, ihre Hoffnung auf den Glauben an die Auferstehung durch Christus zu setzen. In unserer Geschichte bekannte sie sich öffentlich zu Jesus als den Christus, den Sohn des lebendigen Gottes. Johannes 11 ist ein deshalb ein schönes Beispiel, wenn es um die Themen Trauer, Glaube und Hoffnung geht. Martha hatte jedoch nicht immer denselben Glauben.
Trauer ist einer der Momente im Leben, in denen wir uns grundlegende Fragen stellen: Wer sind wir eigentlich? Wozu das alles? Was glauben wir überhaupt? Es ist nur allzu verständlich, dass Menschen, die um einen geliebten Menschen trauern, sich auch Fragen über Gott und ihren Glauben stellen. Dies kann eine Chance sein, den bisherigen Glauben zu überdenken und neu nach der Wahrheit zu suchen. Unsere Trauer kann uns zu einem tieferen und umfassenderen Glauben führen.
Vielleicht entdecken wir in allen unseren Fragen dann einer Theologie, die uns in Zeiten der Trauer hilft und uns bei diesen grundlegenden Fragen unterstützt: „Wo ist Gott? Gibt es ihn überhaupt? Wer ist er? Was glaube ich eigentlich?”
Dieselben Fragen stellen wir uns angesichts des Leids in der Ukraine auch gegenüber Gott. Wie können wir trotz dieser grundlosen Ungerechtigkeiten, Grausamkeiten, Schmerzen und dieses Elends an Gott glauben?
Diese Fragen stellt sich auch Noemi im Buch Rut, als sie um ihre eigene Familie trauert. Noemi tut das, was wir oft erleben, wenn wir hören, wie Menschen Gott für alles Unglück verantwortlich machen. Hören wir einmal zu, wie Noemi klagt: „Nennt mich nicht mehr Noemi, nennt mich Mara, denn der Allmächtige hat mich sehr bitter gemacht. Reich bin ich gegangen, und mit leeren Händen hat der HERR mich zurückkehren lassen. Warum nennt ihr mich Noemi, da doch der HERR gegen mich gesprochen, Schaddai mir Schlimmes angetan hat.“ Noemi klagt Gott an, weil er ihr Unglück gebracht hat. Gott für den Tod eines Menschen verantwortlich zu machen, ist weit verbreitet.
Es ist die uralte Frage, die man sich angesichts von Trauer und Leid über Gottes Güte und Macht stellt. Dieser Gedanke ist so weit verbreitet, dass ein ganzer Zweig der Theologie entstanden ist: die Theodizee. Sie versucht, Gottes Güte und Macht angesichts von Leid und Tod zu verteidigen. Hier liegt das theologische Dilemma für gläubige Menschen, die trauern. Wenn Gott allgütig ist, warum lässt er dann bösen Schmerz, Leid und Tod zu? Wenn Gott allmächtig ist, warum stoppt er dann nicht Leid und Tod? Entweder ist Gott nicht allgütig und kümmert sich nicht um das Leid der Menschheit, oder er ist nicht allmächtig und kann das Leid nicht stoppen.
Dieses Dilemma kann für trauernde Gläubige sehr problematisch sein, wenn sie in ihrer Trauer gefangen bleiben. Das uralte Dilemma geht auf Epikur im 4. Jahrhundert v. Chr. zurück.
Die Frage nach der Güte und Allmacht Gottes steht in direktem Zusammenhang mit dem eigenen Verständnis von Trauer. Wenn ein gläubiger Mensch beginnt, Gottes Fähigkeit und Bereitschaft, ihm in Zeiten des Verlustes zu helfen, infrage zu stellen, kann dies sein Gefühl der Trauer verstärken und den Schmerz noch größer machen.
Genau das ist Noemi passiert. In Rut, Kapitel 1 sagt sie: „Ich bin reich weggezogen, aber der Herr hat mich mit leeren Händen heimkehren lassen. Der Herr hat mich heimgesucht, der Allmächtige hat Unglück über mich gebracht.“ Noemis Klage. Hört ihr sie? Sie erinnert sich daran, dass sie Bethlehem reich verlassen hat – mit Mann und zwei Söhnen –, und nun kehrt sie ohne sie zurück: als Witwe und Mutterlose. Die Trauer hat sie gelähmt und ihren Glauben geschwächt. So änderte sie ihren Namen in Mara, was im Hebräischen „Bitterkeit” bedeutet. Noomi hingegen bedeutet „lieblich und süß“.
Deutlich wird, dass sich Noemis Theologie der Trauer und ihr Gottesverständnis auch auf ihren Trauerprozess auswirkten und darauf, wie sie mit ihrem Schmerz über den Tod in ihrer Familie umging. Sie gab Gott die Schuld für ihren Verlust und die damit verbundenen Probleme in ihrem Leben. Ein Theologe, der Menschen in solchen Situationen helfen möchte, würde ihr deshalb eine andere Theologie der Trauer vorschlagen. Er würde ihr einen Gott predigen, der uns nicht nur Probleme schickt, sondern uns auch dabei hilft, mit unserer Trauer anders umzugehen.
Eine weitere Möglichkeit, Gottes Güte und Macht angesichts des Bösen, des Leidens, des Todes und des Schmerzes zu verstehen, ist der Glaube an den freies Wille eines Menschen. Das heißt, jeder Mensch besitzt die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie er leben will und ob er an Gott glauben möchte – ohne jede Einmischung von außen, auch nicht von Gott. Wenn der Mensch völlig frei ist und alles selbst entscheiden kann, wird die Menschheit bald in einer Welt leben, die sowohl gut als auch böse ist.
Ein Pfarrer, der die Theologie der Trauer auch in einem Kriegsgebiet verinnerlicht hatte, war Reverend Dr. Leslie Weatherhead von der City Temple Church in London, England. Er war von 1936 bis 1960 Pastor dieser Kirche und begleitete seine Gemeinde durch das Trauma des Zweiten Weltkriegs. Im Jahr 1941 wurde die Kirche durch eine Brandbombe zerstört, die während des Blitzkriegs über London abgeworfen wurde. Weatherhead setzte seine Arbeit für seine Gemeinde während des gesamten Krieges fort. Seine Gemeinde stellte ihm immer wieder die Frage: „Woher kommt dieses Böse?” Woher kommt dieses Leid? Woher kommt dieser Schmerz?”
1944 veröffentlichte Weatherhead sein Buch „The Will of God”. Der Krieg tobte noch und sollte erst 1945 zu Ende sein – er schrieb das Buch also noch während des Krieges. Was würde ein Pfarrer heute seinen Gemeindegliedern sagen, die nicht nur um den Tod ihrer Angehörigen, sondern auch um die Zerstörung ihrer Kirche trauern und einfach nicht mehr an einen guten Gott glauben können? Wo ist dieser gute Gott inmitten all des Bösen, wenn um uns herum alles in Schutt und Asche liegt?
Vielleicht fragen sich die Trauernden in der Ukraine auch, wie sie die Worte aus Römer 8,28 („Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten dienen”) verstehen sollen. Alle Dinge dienen zum Guten? Wo ist Gott inmitten dieses Krieges? Kann das gut sein? Ist es sein Wille, dass unschuldige Menschen sterben und leiden?
Gerade in Zeiten des Leidens, beispielsweise während des Zweiten Weltkriegs, hat Weatherhead seine Überzeugung über den wirklichen Willen Gottes auf den Punkt gebracht. Er beschäftigte sich mit einem dreifachen Verständnis des Willens Gottes, dem er immer wieder begegnete. In seinem Buch erwähnt er drei Möglichkeiten, den Willen Gottes im Leiden zu missverstehen: Erstens: Ja, es ist Gottes absichtlicher Wille, es ist sein Plan für die Menschheit. Zweitens ist es Gottes Wille unter bestimmten Umständen, sein Plan unter bestimmten Umständen. Und drittens ist es Gottes letzter Wille, dass wir leiden.
Ist dieser Krieg in der Ukraine also Gottes Wille? Nein, Gott möchte keineswegs, dass seine Geschöpfe Krieg führen, und er will nicht, dass seine Schöpfung unter diesem Krieg leidet. Um es mit Weatherhead zu sagen: Gott ist der Schöpfer und Erhalter unserer Welt. Ja, der Tod gehört für jeden von uns zum Leben, aber Gott ist kein Mörder. Weatherhead wollte seinen Lesern vermitteln, dass ein Krieg, in dem Millionen Menschen getötet wurden, nicht Gottes Wille sein kann. Gott möchte nicht nicht, dass Menschen auf diese Weise sterben, das kann niemals sein Wille sein. Aber Gott kann auch unter schrecklichen Umständen Gutes tun, und das ist sein Wille. In jeder Tragödie steckt auch die Möglichkeit, dass Gott uns eine neue Zukunft schenkt. Die Menschen in der Ukraine dürfen jedoch nicht nur durch den Krieg definiert werden. Wir können nicht leugnen, dass dieser Krieg unglaubliches Leid, Schmerz, Verlust und Trauer verursacht.
Aber gibt es selbst im Krieg auch etwas Gutes? Das wäre wohl Gottes Wille. Haben wir eine Hoffnung für diejenigen, die durch diesen Krieg viel Leid erfahren und verarbeiten müssen? Haben wir für sie eine Theologie der Hoffnung?
Mit dieser Frage beschäftigte sich Weatherland in seiner Kirche. Er glaubte nicht, dass Gott diesen schrecklichen Krieg verursacht hatte, aber er hoffte, dass Gott ihn am Ende zum Guten führen würde. Doch mitten im Krieg fragte er: „Was wäre das für ein Gott, der uns einen Krieg schickt, um letztlich seinen guten Plan an uns zu verwirklichen?”
Deshalb frage auch ich mich: Was wäre das für ein Gott, der euch einen Krieg schickt, um letztlich seinen guten Plan an euch zu verwirklichen? Gott hat euch diesen Krieg nicht geschickt, er hat ihn nicht gewollt. Sein Wille ist, dass auch an euch Gottes Wille gut werden kann. Weatherhead verstand jedoch, dass die Welt in einer schrecklichen Situation wie einem Krieg anders aussieht und wir Gottes guten Willen nicht erkennen können. Doch trotz all dieser Umstände blieb Gott für ihn lebendig. Gott kann uns die Kraft geben, einen Verlust anzunehmen, und er kann uns, wenn wir uns ihm anvertrauen, durch den Schmerz und die Trauer, die wir tragen, zu neuer Hoffnung führen.
Kürzlich habe ich mit einem ukrainischen Pastor über all das und seinen Dienst unter den tragischen Umständen dieses Krieges gesprochen. Sein Handeln ist für mich sehr vorbildlich. Trotz allem sieht er einen Weg, an den letztlich guten Willen Gottes zu glauben und sich als Pfarrer die Hoffnung nicht nehmen zu lassen. Er schmiedet eine Theologie der Trauer auf dem Amboss der Hoffnung für all jene, die keine Hoffnung sehen; für all jene, die glauben; und für all jene, die nicht glauben und nur den Hass in dieser Welt sehen. Er versucht, allen Hoffnung zu geben. Dieser Pfarrer lässt sich seine Hoffnung trotz allem nicht nehmen.
Früher arbeitete er als Pastor in einer Stadt in der Nähe von Bachmut in der Ostukraine. Als die Russen im Jahr 2022 in die Ukraine einmarschierten und die Stadt Sumi besetzten, wurde er zusammen mit vielen anderen Christen immer wieder von ihnen bedroht. Schließlich entschieden sie sich, als Flüchtlinge in die Stadt Wenyzija zu gehen und ihr altes Zuhause, ihre Familie, ihre Arbeit, ihre Kirche und die Erinnerungen an das, was war und nicht mehr ist, zurückzulassen.
Es war der traurigste Schritt ihres Lebens. Doch sie beschlossen, sich ihren Glauben nicht nehmen zu lassen und den neuen Ort zu ihrer Heimat zu machen. Sie gründeten eine neue Gemeinde. Diese begann im April 2022 mit sechs Mitgliedern. Heute besuchen 75 Menschen den Gottesdienst, und es werden immer mehr. Letzten Sonntag durfte ich in dieser Gemeinde predigen. Die Gemeinde hat mehrere Dienste in der Umgebung und in der ganzen Ukraine. Sie besucht sogar jede Woche die Soldaten an der Front und die Zivilisten, die der Kriegsfront nicht entkommen können. Dieser treue Pastor und seine mutige evangelische Gemeinde zeigen uns, dass selbst im Angesicht von Trauer und Verlust der Glaube an eine neue Hoffnung möglich ist. Diese Kirche ist ein lebendiger Beweis dafür, dass eine praktisch gelebte Theologie der Trauer in den unterschiedlichsten Kirchen in einer sehr schwierigen Situation entstehen kann.
Sie ist für mich auch ein Beispiel für andere Religionsgemeinschaften, die ihre Trauer überwinden und die verwandelnde Kraft von Hoffnung und Glauben selbst in einem Kriegsgebiet entdecken können. Letzten Sonntag waren 80 Menschen im Raum. Ich habe mit einem Handzeichen darum gebeten, etwas sagen zu dürfen.
Ich habe mit einem Handzeichen darum gebeten, ihnen etwas sagen zu dürfen. Von den 80 Anwesenden waren 70 Flüchtlinge.
Und noch etwas scheint mir sehr wichtig: Eine Theologie der Trauer zu entwickeln bedeutet nicht, katholisch, orthodox, baptistisch, methodistisch, pfingstlerisch oder mennonitisch zu sein, sondern sie gemeinsam zu suchen. Eine Theologie der Trauer erfordert die ökumenische Zusammenarbeit aller christlichen Konfessionen.
Dieses Seminar von Roman Fihas ist meiner Meinung nach ein perfektes Beispiel dafür, wie wir alle mit unseren christlichen Traditionen voneinander lernen können. Wenn wir einander zuhören und miteinander ins Gespräch kommen, entsteht eine Theologie der Trauer, die uns allen hilft. Wie du in der Einleitung gesagt hast, ist das heute wirklich sehr wichtig. Aber zuerst kommt das Zuhören, dann die Theologie. Wir alle als Theologen und Priester sollten zuerst aufeinander hören, wie du in der Einführung zum Thema sehr richtig gesagt hast. Ich mag deine Worte auch sehr. Manchmal wollen wir Theologen und Priester lieber reden als zuhören. Für unser Thema ist es jedoch sehr wichtig, dass wir zuerst einander zuhören und dann zur Theologie kommen, die wir entwickeln wollen. Diese muss sehr lebensnah sein. Dabei hilft uns das Zuhören auf die Menschen, die uns anvertraut sind, und das Eingehen auf ihre Leiden und Fragen. Nur eine solche Theologie, die aus dem Zuhören entsteht, wird uns helfen.
Ich möchte mit einem Zitat eines Soldaten und Dichters aus der damaligen Zeit und seinen folgenden Worten aus dem ersten Korintherbrief schließen. „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, die Liebe ist nicht eifersüchtig, die Liebe ist nicht ängstlich wie ein Tier, sondern sie ist aufmerksam. Die Liebe könnte alles aufgeben und verlassen, aber sie nimmt den in Liebe auf, der Schusswunden an den Beinen oder Schusssplitter, die schon lange stecken, hat. Die Plackerei ist vorbei, aber die Freunde sind es nicht. Die Plackerei ist vorbei, aber die Freunde sind es nicht. Schließe die Augen aus Liebe, wickle sie in den Schlafsack und nimm sie mit.“
Vielen Dank. Es geht also nicht darum, theoretisch zu denken, wenn man mitten im Leid ist, sondern wirklich so, wie du diesen Satz des Soldaten zitiert hast. Über diese Wunden und diese Augen – das hat uns sehr berührt. Deshalb bemüht sich die Ukraine, mitten in diesem Krieg, die Liebe Gottes in diesen schwierigen Umständen zu zeigen. Wir suchen verzweifelt nach seiner Gegenwart unter uns.
Rückfrage
Ich habe noch eine Frage. Du hast gesagt, dass Menschen anderen Menschen manchmal Böses antun, wenn sie über Massaker sprechen. Wenn wir aber über Naturkatastrophen sprechen, habe ich eine Erklärung dafür: Gott hat den freien Willen nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Natur geschaffen. Können wir also von einem freien Willen der Natur sprechen, wenn diese Naturkatastrophe so viel Zerstörung verursacht, wie wir Menschen sie in meinem Zuhause in Augusta, Georgia, persönlich gespürt haben?
Roman, im September ist der Hurrikan „Helen” durch Augusta gezogen. Erinnert ihr euch, als ich im September hier war und dieser Hurrikan am 27. September kam und viele Häuser zerstörte und Menschen in meiner Stadt tötete? Die Häuser meiner Nachbarn wurden zerstört und sie konnten nicht mehr darin leben. Viele haben sich gefragt: Wo ist Gott inmitten dieses Hurrikans, inmitten dieses Sturms?
Ich glaube, die Antwort, die Weatherhead uns heute geben würde, wäre ähnlich wie damals: Gott ist mit uns, auch in der Tragödie einer Naturkatastrophe, auch in einer Kriegskatastrophe, die eigentlich nur eine von Menschen verursachte Katastrophe sein kann. Und ich denke, wir haben den Glauben, aber wir müssen auch auf unsere Gemeinschaft hören. Nach dem Hurrikan haben wir gesagt, dass die Menschen in unsere Kirche kommen können, um ihren Schmerz und ihre Trauer mit uns zu teilen. Wir haben Wasser, Essen und Kleidung verteilt und gleichzeitig das Evangelium verkündet. Wir haben den Menschen zugehört und ihnen gesagt, dass Gott auch in dieser Tragödie bei uns ist. Wir haben nicht gesagt, dass Gott den Sturm geschickt hat, sondern dass Gott mit uns im Sturm war. Ich denke, das ist biblisch, wenn man sich an Jesus im Sturm auf dem See Genezareth erinnert. Er war mitten im Sturm, konnte ihn stillen und Frieden schaffen. Aber er sagte zu seinen Jüngern: „O ihr Kleingläubigen!” Dies nur als Teil unseres Gesprächs zum Sturm, der auch in uns tobt.
Julia Vintoniv, Doktorin der Theologie, Dozentin an der UCU und forscht zum Phänomen der Gottesferne in Theologie, Spiritualität und zeitgenössischer Kultur
Nun zu dir, Julia. Du hast über das besondere Thema der Gottverlassenheit promoviert. In deinem Beitrag mit dem Titel „An jenem Tag ließ Gott die Sonne schon am Mittag untergehen” geht es um diesen Moment der totalen Dunkelheit am Nachmittag des Karfreitags, um diesen Moment der totalen Gottverlassenheit, den Christus vor seinem Tod am Kreuz erlebt hat. Du betrachtest diesen Moment als einen sehr wichtigen Aspekt einer tiefen Theologie der Trauer, in der Gott in seinem Sohn gerade in dieser tiefsten Dunkelheit Mitleid und Erbarmen zeigt.
Es ist kein angenehmes Thema, über das ich jetzt sprechen werde, denn es konfrontiert uns mit der ungeschminkten Realität unseres Leidens und stellt unser Verständnis des göttlichen Wesens infrage. Schon im Alten Testament finden wir einen Gott, der nicht distanziert, sondern zutiefst betroffen vom Leiden seines Volkes ist. Die gefühlsbetonten Passagen des Alten Testaments sprechen von Gottes Trauer, Eifersucht, Zorn und anderen Gefühlen gegenüber seinem Volk. Diese Gefühle entsprechen der heutigen Erfahrung Gottes mit der Menschheit.
Bereits im 20. Jahrhundert, erschüttert von den Schrecken der Zerstörung vieler traditioneller theologischer Konzepte, stellten wir uns die Frage: Wie kann ein gerechter und barmherziger Gott angesichts des Leidens in dieser Welt schweigen? Eli Wiesel schrieb dazu die unvergesslichen Worte: „Nie werde ich diesen Rauch vergessen, diese Flammen, die meinen Glauben für immer verzehrten, diesen Augenblick, der meinen Gott und meine Seele ermordete. Niemals werde ich diese Dinge vergessen, auch wenn ich so lange lebte wie Gott selbst.“
Ich werde auch nie die tiefe Glaubenskrise vergessen, die aktuell viele Ukrainer durchleben. Diese Zeit erfordert eine Überarbeitung traditioneller theologischer Konzepte. In der jüdischen Theologie hat sich das Verständnis von Leid als Strafe zu einem Verständnis von Leid als Prüfung des Glaubens gewandelt. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir im Christentum: Früher wurde das Leiden als eine Art Glaubensprüfung verstanden, heute ist es eine Erfahrung der Gottverlassenheit.
Historisch gesehen hat sich die christliche Theologie seit der Zeit der Kirchenväter mit diesem Gedanken auseinandergesetzt. Es galt als Häresie, dass der Vater leibhaftig mit seinem Sohn am Kreuz gelitten habe. Die frühe Kirche lehnte dies ab, um die verschiedenen Hoffnungen der Trinität aufrechtzuerhalten. Wenn man das Leiden des Vaters mit seinem Sohn am Kreuz jedoch annimmt, bleibt uns nur ein Gott, der uns keine Hoffnung gibt, fern von uns, gefühllos in seinem Himmel.
Schon vor Jahrhunderten haben sich Theologen getraut, den Gedanken des leidenden Vaters zu erforschen. In seiner Einführung sprach P. Roman von der Schwierigkeit, Gott im Leiden zu lieben, von diesem Kampf, der aus dem wahrgenommenen Schweigen Gottes erwächst und paradoxerweise zur Gelegenheit wird, ihn als Vater zu lieben. Einerseits erinnert man ihn an sein Schweigen, das oft als Untätigkeit oder sogar Gleichgültigkeit interpretiert wird. Andererseits ruft es Ressentiments, Rebellion und Protest hervor.
Andererseits spiegelt diese Realität eine tiefe Sehnsucht nach der Teilnahme Gottes am menschlichen Leiden wider. Diese wird traditionell manchmal als unmöglich angesehen. Solche Forderungen stellen eine Umkehrung des Gottesbildes dar und führen zu komplexen theologischen Dilemmata. Dazu gehört auch die Gefahr des Anthropomorphismus, bei dem das Göttliche auf das menschliche Konzept von Liebe und Mitleid reduziert wird. Dabei werden Fragen wie: Kann Gott für uns noch ein Gott sein, wenn er nicht leiden kann?
Rodger ging zuvor auch auf die Frage ein, wo der barmherzige Gott angesichts des Leidens sei. Er argumentierte, dass diese Frage von einer anthropozentrischen Perspektive ausgehe, aber berechtigt sei, da sie aus dem Herzen des menschlichen Schmerzes geboren werde. Er verwies auf die Höllenfahrt Christi als ultimativen Akt der Solidarität Gottes. Dabei durchlief Christus die Realität der Vaterlosigkeit und schrie in seiner Schwäche am Kreuz. Der Übergang vom Vater zu Gott sei ein tiefer Moment menschlicher Solidarität. Gott sieht jeden menschlichen Schrei, jeden Moment der Verzweiflung.
Er untersucht den Begriff der Solidarität Gottes mit dem Leiden der Menschheit als eine Art Gleichgewicht zwischen dem Vater und jedem einzelnen Menschen. Der Schrei Christi „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” ist demnach kein Zeichen der Verlassenheit, sondern eine Brücke, ein Weg Gottes in die Tiefe des menschlichen Leidens. Roger sprach vom kosmischen Wert der inneren Stunde der Finsternis, die durch die Dunkelheit der Kreuzigung, das Zerreißen des Vorhangs im Tempel und die bebende Erde bei Matthäus und Markus symbolisiert wird. Dies sind keine bloßen Naturphänomene, sondern Zeichen für den „Mittag Gottes” selbst. Die Dunkelheit, die der Dunkelheit der Schöpfung gleicht, weist auf eine Rückkehr zu den Grundlagen des Daseins hin. In der Kenosis (Selbstentäußerung) kommt uns Gott als Vater nahe. Mitleiden und die Unmöglichkeit, jemanden zu retten, ohne dabei menschliche Emotionen auf ihn zu projizieren, können wir nicht nur vom Leiden des Sohnes, sondern auch vom Leiden des Vaters lernen.
In dieser Kenosis erscheint uns die Liebe Gottes, die das Leiden nicht auslöscht, sondern an ihm teilnimmt, als ob sie es aus erster Hand erfahren würde. Das ist der tiefste Sinn, das ist die Definition der Liebe. Um dies zu verstehen, können wir den Begriff der Kenosis auch als Selbstentäußerung Gottes betrachten. Im Leiden des Sohnes und des Vaters erfahren wir die Kenosis der Liebe Gottes. Beim Sohn geschieht dies in seiner Menschwerdung und Kreuzigung, beim Vater in seiner Bereitschaft, seinen Sohn dies erleiden zu lassen. Diese wechselseitige Kenosis offenbart einen Gott, der nicht distanziert und allmächtig ist, sondern zutiefst in die menschliche Existenz hineingenommen ist.
Jürgen Moltmann betont, dass nicht der Vater dem Sohn die Kreuzigung auferlegt, sondern der Sohn sie freiwillig auf sich nimmt. Es ist ein Akt der Liebe, wenn Gott das Opfer seines Sohnes annimmt – eine Liebe, die das Leiden des Sohnes teilt. Laut Moltmann ist die tiefe Trauer Gottes für das Verständnis der Kreuzigung ebenso wichtig wie die Teilnahme des Vaters am Leiden. Das Mitleiden Gottes zeigt, dass der Vater mitleidet. Moltmann schreibt, dass die Verlassenheit am Kreuz, die den Sohn vom Vater trennt, etwas ist, das in Gott selbst geschieht. Gott gegen Gott, eine Trennung, die zur Wiedervereinigung der ganzen Menschheit führt. Moltmann schreibt, dass die Schreie Christi am Kreuz „Mein Gott, mein Gott” vor Gott widerhallen.
Um diese Worte tiefer zu verstehen, muss man zunächst anerkennen, dass der Kreuzigung Christi die Auseinandersetzung mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn vorausging. Dieses Gleichnis bietet mit seinem Bild des liebenden Vaters, der auf Adam wartet, ein kraftvolles Beispiel für Gottes Mitleid und seine Schlussfolgerungen, wie der Literaturkritiker C. S. Lewis feststellte. Es gibt kein Entrinnen aus dem Leiden. Die Antwort ist keine intellektuelle Rechtfertigung, sondern ein Akt der Gegenwart im Leiden. Der Schrei der Gottverlassenheit ist demnach kein Zeichen der Abwesenheit Gottes, sondern ein Zeichen seiner Gegenwart. Er ist ein Akt des Glaubens und ein Zeugnis für die beständige Kraft der Liebe.
Die Erforschung des Mitgefühls Gottes ist keine Spekulation, sondern eine notwendige Konfrontation mit dem Problem des Bösen und des Leidens. Ist Gottes Schweigen machtlos? Oder ist es ein Akt tiefen Vertrauens, der es der Menschheit ermöglicht, die volle Tragweite ihrer Entscheidungen zu erfahren? Am Karfreitag fordert Gott uns heraus, unser Verständnis des Göttlichen neu zu definieren. Er lädt uns ein, Gott nicht als fernen Beobachter, sondern als jemanden zu sehen, der Mitgefühl für unseren Schmerz hat. Es ist der Kontext, in dem das Schweigen Gottes und der Mensch stehen.
Es ist nicht das Schweigen der Abwesenheit, sondern das Schweigen der Gegenwart. Ein Schweigen, das uns einlädt, in die Tiefe der göttlichen Liebe einzutauchen. Es ist ein lauteres Schweigen als jedes Wort und versichert uns, dass wir selbst in der Dunkelheit des Augenblicks nicht verlassen sind. Und schließlich fordert uns dieses Verständnis von Gottes Mitgefühl auch dazu heraus, unsere eigenen Reaktionen auf das Leiden zu überdenken. Sind wir bereit, in den Schmerz anderer einzutauchen, ihnen zur Last zu fallen und so unsere Anwesenheit als Zeichen der Hoffnung zu zeigen? Oder wenden wir uns ab, um das Unbehagen des Mitgefühls zu vermeiden?
Ich möchte mit einem Zitat des Soldaten, Doktors und Dichters John McCrae aus dem ersten Korintherbrief schließen: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, die Liebe ist nicht eifersüchtig, die Liebe ist nicht ängstlich wie ein Tier, sondern sie ist aufmerksam. Die Liebe könnte alles aufgeben und verlassen, aber sie nimmt denjenigen in Liebe auf, der Schusswunden an den Beinen oder Schusssplitter, die schon lange in ihnen stecken, hat. Die Schinderei ist vorbei, aber die Freunde sind es nicht. Die Schinderei ist vorbei, aber die Freunde sind es nicht. Schließe die Augen aus Liebe, wickle sie in den Schlafsack und nimm sie mit.“
Vielen Dank. Es geht also nicht darum, theoretisch zu denken, wenn man mitten im Leid ist, sondern wirklich so, wie du diesen Satz des Soldaten zitiert hast. Über diese Wunden und diese Augen – das hat uns sehr berührt. Und deshalb bemüht sich die Ukraine wirklich, mitten in diesem Krieg die Liebe Gottes in diesen schwierigen Umständen zu zeigen. Wir suchen verzweifelt nach seiner Gegenwart unter uns.
Pater Oleh Kindiy, Doktor und außerordentlicher Professor für Theologie an der UCU sowie Leiter des Zentrums für Ökotheologie und nachhaltige Entwicklung
Ich befinde mich nicht in einem normalen Umfeld, werde aber mein Bestes tun, um einige meiner Intuitionen und Gedanken mit euch zu teilen. Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Jahren zu der Erkenntnis gekommen bin, dass unser theologisches Verständnis natürlich immer durch wissenschaftliche Forschungen aus anderen Bereichen bereichert wird.
Einer dieser Bereiche, der heute besonders blüht, ist die Psychologie. Deshalb ist meine erste These, dass Trauer in der heutigen populären Wahrnehmung normalerweise als ein bestimmter psychologischer Geisteszustand verstanden wird. Wir denken immer, wenn jemand trauert, dann bedeutet das, dass es diese psychologische Wahrnehmung gibt. Wir betrachten Trauer als eine Emotion, in die eine Person eintritt und die manchmal für eine ziemlich lange Zeit anhalten kann, genauso wie Angst oder andere Emotionen.
Emotionen sind äußerst wichtig für uns. Psychologen erklären, dass Angst, Wut, Verlegenheit, Schmerz und Trauer zu einer Gruppe von sogenannten kalten Emotionen gehören. Diese sind einerseits notwendig, da sie eine natürliche Reaktion auf bestimmte Umstände sind. Wenn zum Beispiel jemand stirbt, den wir lieben, dann trauern wir um diese Person. Manchmal haben wir das Gefühl, nicht mehr leben zu wollen, und versinken in einem noch tieferen Zustand der Trauer. Manchmal empfinden wir Wut und Angst, dass uns etwas zustoßen könnte.
Diese kalten Emotionen sind miteinander verbunden. Psychologen erklären, dass es eine gewisse Abstufung gibt, aber ich will nicht ins Detail gehen. Die kälteste Emotion ist der Tod, denn wenn ein Mensch tot ist, wenn er sozusagen am kältesten ist, dann liegt über dem Tod ein kaltes Gefühl der Verlassenheit und der Depression. Ein depressiver Mensch ist also ständig mit dem Tod konfrontiert. Ein Gefühl, das über die Depression hinausgeht, ist Trauer, dann folgen Wut und Angst. All diese Emotionen sind wichtig für uns und wir erleben sie. Gefährlich wird es jedoch, wenn wir in diesen Emotionen gefangen bleiben, denn dann können sie sich zu Obsessionen entwickeln und sogar unsere körperliche Gesundheit beeinträchtigen.
Emotionen sind also wichtig, aber es ist wichtig, sich nicht in ihnen zu verfangen. Auf der anderen Seite der Emotionsskala, an deren einem Ende die Trauer steht, gibt es die sogenannten warmen oder heißen Emotionen. Es ist ein gewisser Lebensrhythmus, wenn ein Mensch jeden Tag alles macht, isst, schläft und kommuniziert. Das ist die sogenannte konservative Emotion. Die konservative Emotion ist so etwas wie das Interesse am Leben, wenn wir uns entwickeln, wenn wir ständig darüber nachdenken, was es Neues gibt und was wir heute lernen werden. Wenn jemand diese Emotion hat, dann ist das ein Zeichen dafür, dass diese Person aufblüht. Es ist eine sehr starke Emotion, wenn wir Freude empfinden. Das höchste Gefühl ist natürlich die Liebe.
Befinden wir uns auf der kalten Skala, ist eine Person nicht in der Lage, einfache Dinge zu tun. Befinden wir uns jedoch auf der Skala der heißen Emotionen, sind wir in der Lage, sehr komplizierte Probleme schnell zu lösen. So funktioniert unser Gehirn. Und das Paradigma, dass wir alle in diesem Bereich der Emotionen leben, gibt mir die Idee, wie wir dieses Verständnis der Skalen auch aus theologischer Sicht vertiefen können.
In der orthodoxen und katholischen Tradition kann dieses Verständnis unser theologisches Verständnis vertiefen. Nun, ich nehme an, dass es in einigen katholischen und protestantischen Traditionen Gebete, Gedenkfeiern oder die Erinnerung an Verstorbene gibt. In der orthodoxen Kirche haben wir gerade die Fastenzeit vor uns, in der sehr intensiv für die Kranken gebetet wird. Wir versammeln uns als Gemeinschaft der Gläubigen jeden Mittwoch und Freitag und gedenken der Verstorbenen. Wir sprechen die Namen der Verstorbenen. Auch am Karsamstag ist das ein ganz wichtiger Teil des liturgischen Lebens: die Trauer. Denn wenn wir an die Verstorbenen denken und diese Verbindung zu ihnen haben, – geschieht es sehr oft. Ich spreche als Pfarrer und Priester und kann bezeugen, dass diese Menschen, die dieses Gebet durchlaufen, dann auch in diesen Zustand der leichten Traurigkeit und der Trauer kommen. Manchmal, wenn sie diese Kirche betreten und sich als Familie zusammenfinden, ist plötzlich so eine Art Glanz und Gloria da. Das ist sehr, sehr wichtig.
Ich bin eigentlich in einer ungewöhnlichen Situation, weil ich auf Pilgerreise nach Rom bin. Gerade bin ich 200 Meter vom Petersdom entfernt und konnte das Grab des heiligen Petrus besuchen. Dort liegen viele andere Heilige begraben, etwa der heilige Joseph, zumindest ein Teil seines Körpers. Es ist ein sehr wichtiger Moment, wenn man einen Friedhof oder eine Kirche betritt. Asiatische Kirchen wurden auf den Gräbern von Heiligen gebaut, und auch heute haben die meisten Kirchen noch die Leichen von Menschen, an die wir uns erinnern und mit denen wir eine Verbindung haben, in ihren Mauern.
Ich freue mich sehr, dich hier bei uns zu sehen, Pater Oleh. Ich hatte schon mehrmals die Gelegenheit, dich kennenzulernen. Du arbeitest auch in einer Gedenkstätte in einem Museum in Polen. Es ist ein ganz besonderes Museum. Es ist die Gedenkstätte in Auschwitz, nicht wahr?
Es ist ein Ort, an dem Menschen aus der ganzen Welt, darunter Kinder und Staatsoberhäupter, kommen, um zu verstehen, was Leiden ist. Für manche ist das ein ungewohnter Gedanke, um es milde auszudrücken. Ich möchte keine zu starke Sprache verwenden, um eine Kriegsmaschine zu beschreiben, die Millionen Menschen getötet hat. Aber dies ist ein Ort wie die Kirche oder der Friedhof mit den Bestattungen. Und auch ein Museum wie dieses ist ein Ort, an dem wir die Idee der Kostbarkeit des Lebens wieder aufgreifen.
Wenn Staats- und Regierungschefs heute in die Ukraine kommen, besuchen sie oft einen der ersten Kriegsschauplätze wie Butscha oder Irpin. Das sind Orte, an denen Menschen nicht nur im Krieg getötet, sondern ermordet wurden. Es gab eine unmenschliche Form des Hasses, die zum Tod von Menschen geführt hat – wenn auch nicht im Ausmaß des Zweiten Weltkriegs. Heute sind Irpin und Butcha sozusagen kleine moderne Orte, an denen sich das wieder ereignet hat. Das soll ihre Bedeutung nicht schmälern.
Ich verstehe, dass das Ausmaß ein anderes ist. Aber heute ist es nun einmal so. Ich möchte betonen, dass dies leider die Orte sind, an die wir kommen müssen. Und ich möchte kurz diesen Gedanken einwerfen, dass ich J. D. Vance und Donald Trump wirklich empfehlen würde, nach Butscha zu kommen. Vielleicht könnten sie ihre Realität überprüfen und die ganze Idee von richtig und falsch neu überdenken. Denn wenn wir an Orte wie diesen kommen, können wir die wertvolle Dimension dessen, wer wir als Menschen sind, neu betrachten.
Es ist, wie gesagt, das kälteste Gefühl, aber als Christen betrachten wir den Tod nicht als das endgültige Ende des Lebens. Die Grundlage unseres Glaubens ist die Erwartung der Auferstehung. Wir haben gerade Rogers wunderbare Gedanken über den biblischen Zugang zu diesem Thema gehört. Wir haben viele gute Zitate darüber gehört, wie diese Passagen im Alten und Neuen Testament funktionieren. Die Bibel vermittelt uns ein gewisses Verständnis dafür, dass Trauer ein notwendiger Teil unseres Lebens ist – und damit auch die Trauer und das Gedenken an diejenigen, die von uns gehen.
Wenn man darüber nachdenkt, hat man oft diesen mittelalterlich-klösterlichen Ausdruck der Ewigkeit in sich, der uns hilft, das Leben auf der anderen Seite besser zu verstehen. Es gibt noch einen anderen Aspekt, den ich in dieses Gespräch einbringen möchte, der ebenfalls mit dem Fasten oder mit der vorösterlichen Zeit zu tun hat. Jesus sagt, dass das Fasten das Gebet intensiviert. Zwischen diesen beiden Dingen besteht ein gewisser Zusammenhang. Fasten an sich schenkt uns keine Gnade. Das heißt nicht, dass wir heilig werden, wenn wir viel fasten.
Wenn wir jedoch bewusst verstehen, dass es bestimmte Dinge in unserer täglichen Ernährung gibt, die wir minimieren oder einschränken wollen, dann haben wir mehr Zeit für andere wunderbare Dinge, die wir in unserem Leben tun sollten: für geistliche Gedanken, für das Lesen – vielleicht mehr die Bibel – oder für den Besuch bei Menschen, die im Krankenhaus sind.
Fasten ist eine bestimmte Lebensweise, die uns darin schult, mit unseren Emotionen umzugehen. In der katholischen Tradition gibt es die Fastenzeit im Advent vor Weihnachten und die Fastenzeit vor Ostern sowie andere Fastenzeiten im Laufe des Jahres. Aber auch in der evangelischen Tradition ist das Fasten ein wichtiger Bestandteil, wenn Menschen ihr Gebet intensivieren wollen. Dabei geht es nicht nur darum, auf Nahrung zu verzichten, sondern auch darum, sich zu fragen: „Wer bin ich?” Was tue ich? Was sind die bestimmten Dinge, zu denen ich nein sagen sollte? Indem wir trauern, klagen und unsere Sündhaftigkeit anerkennen, demütigen wir uns selbst. Das gibt uns eine gewisse Bereitschaft, vor der Herrlichkeit Gottes zur Analogie der Emotionen zurückzukehren. Diese Emotionen kann unser Gehirn nicht ständig produzieren. Wenn wir versuchen, ihre Produktion durch Drogen oder Alkohol anzukurbeln, schaden wir unserem Gehirn.
Das Gehirn erschöpft sich. Wir wollen ihm also in gewisser Weise beibringen, Freude zu empfinden, aber auch die Kostbarkeit von Traurigkeit, Kummer und manchmal sogar Angst in uns zu erkennen. Das sind keine Dinge, vor denen wir fliehen sollten, sondern Dinge, die wir umarmen sollten. Und genau das geschieht, wenn wir erkennen, was Jesus für uns getan hat, als er durch den Tod gegangen ist. Aber er ist auch auferstanden. Er hat nicht nur einen schönen Teil unseres Lebens genommen, sondern unser ganzes Leben mit unserem Weinen, unseren Bedürfnissen und unseren Ängsten. Jesus hatte eine Seele, eine echte Seele mit echten Gefühlen und allem, was menschlich ist. Das ist ein sehr wichtiger Teil seiner Identität.
In Gemeinschaft mit ihm schenkt er uns Heilung. In der christlichen Theologie sagen wir, dass er dann in den Hades hinabgestiegen ist. Dort geschieht, was am Kreuz geschehen ist. Es gibt verschiedene Bibelstellen und Interpretationen des ersten Petrusbriefes, Kapitel 3, Verse 18–19, in denen es heißt, dass Jesus nach seinem Tod in den Hades oder ins Gefängnis ging. Die orthodoxe Tradition besagt, dass er zu diesem Zeitpunkt in das Herz des Hades ging und Adam und Eva aus dem tiefsten Vergessen ins Leben zurückholte.
Das wichtigste Symbol der Auferstehung in der östlichen Tradition ist nicht, dass Jesus das Grab verlässt, sondern dass er in die Tiefen des Vergessens und in die Dunkelheit des Todes eintritt. Wir sagen, dass der Gang in den Hades notwendig war, um uns vom Tod zu erlösen. Nicht nur der Tod, sondern auch das Leiden, der Zorn, die Angst und die tiefe Trauer, die Christus selbst am Kreuz durchlebt hat, waren Teil der Liebe Gottes zu den Menschen.
Ich möchte Julia kurz dafür danken, dass sie diesen ganzen Gedanken angesprochen hat: Christus hatte als Sohn eine tiefe Beziehung zum Vater, die nicht ideal oder perfekt, sondern echt war. In dieser Beziehung gab es Gehorsam, aber auch eine gewisse Spannung zwischen Vater und Sohn. Dies wird am Kreuz deutlich, wo der Schmerz ein notwendiger Teil der menschlichen Empathie ist, eine tiefe Erfahrung des menschlichen Lebens, die alle Menschen auf eine Stufe des Leidens und der Gerechtigkeit stellt und eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit weckt. Dies ist auch paradigmatisch für das christliche Verständnis unserer Erlösung. Nach der Finsternis der Nacht kommt das Licht des Tages, nach Trauer, Leid und Auflehnung also die Auferstehung, das Leben und die Wiederherstellung der Harmonie.
Pater Serhij Dmytriev, Militärseelsorger der Orthodoxen Kirche der Ukraine und Vorsitzender des Vorstands von Eleos Ukraine
Vielen Dank, Pater Oleh, für deine Vorträge und dafür, dass du daran erinnert hast, dass dies eine Zeit großer Chancen für unser Land ist. Die Kirchenoberhäupter haben zu Beginn des Krieges gesagt, dass für viele von uns die Zeit großer Herausforderungen begonnen hat. Und auch dafür, dass du daran erinnert hast, dass es diese doppelte Realität gibt: Einerseits leben die Ukrainerinnen und Ukrainer in Trauer, Traurigkeit und Einsamkeit, andererseits sollten wir diese existenziellen Lebenserfahrungen mit Inspiration und Hoffnung verbinden. Darauf käme es jetzt an. Ich danke dir, dass du uns das so deutlich gemacht hast.
Nun bitte ich Pater Serhij Dmytriev. Er wird auf Ukrainisch sprechen und wir werden ihm bei der Übersetzung ins Englische helfen. Pater Serhij ist Militärpfarrer der Orthodoxen Kirche der Ukraine und Vorstandsvorsitzender von Eleos Ukraine. Er begegnet dem Krieg sowohl als Militärseelsorger als auch als Leiter des Sozialministeriums in der Ukraine. Pater Serhiy, könnten Sie uns bitte von Ihren Erfahrungen mit der Gegenwart Gottes an Orten des Leidens, wie Butscha und Irpin, erzählen? Wie sieht man die Gegenwart Gottes und wie erklärt man sie Menschen, die leiden und sich einsam fühlen?
Es ist mir eine Ehre, unter so großen und gelehrten Theologen und Professoren zu sein. Ich bin weder Professor noch Theologe, daher bitte ich um Verständnis dafür, dass ich kein Englisch spreche. Ich spreche nur Ukrainisch. Die Stadt Lemberg ist für mich ein wichtiger Ort, weil ich dort früher und auch jetzt ein Heim für Frauen leite, die als Kinder gelitten haben. Zwei Tage nach der Befreiung von Butscha bin ich mit Militärs in die Stadt gekommen. Wir haben gesehen, dass immer noch Leichen von Zivilisten sowie Hunde und andere Haustiere auf den Straßen lagen.
Doch ich möchte mit etwas anderem beginnen: Das Wissen, das wir durch unsere Trauererfahrung erlangen, unterscheidet sich vom allgemeinen Wissen. Ich denke zum Beispiel an die Menschen, die vor den Kriegen in Afrika oder aus dem Foltergefängnis Sednaja in Syrien fliehen mussten. Ich bin sicher, dass ich den syrischen Bürgerkrieg, die Angriffe auf einige Städte und die Menschen in Al-Muthaqa heute als Mensch etwas besser verstehe. Ich möchte diesen Menschen mein Beileid aussprechen.
Mir geht es wie einigen anderen, die gesagt haben, dass für sie die alte Theologie danach nicht mehr existiert. Es braucht eine andere Theologie, die sich aus all diesen weltweiten Ereignissen entwickeln muss. Meine Erfahrung mit diesem Krieg ist, dass ich seit elf Jahren im Krieg bin. Als Militärpfarrer habe ich viele Menschen beerdigt. Als Militärseelsorger, als Priester und als Mensch helfe ich anderen, das durchzustehen. Ja, und auch, um zu verstehen, wie sich die Menschen im Krieg fühlen.
Zunächst einmal ist es ein Schrei nach Gerechtigkeit, und wir wollen, dass die Wahrheit siegt. Wir wollen die ganze Welt fragen: Weshalb sieht die Welt für uns so aus? Wo gibt es Gerechtigkeit? Gerechtigkeit. Ein großes Wort. Die Welt beobachtet uns und der erste Wunsch ist das Gute. Meine einfache Erfahrung als Priester und Mensch ist, dass Gott diesen Kummer und diese Gewalt zulässt. Ich möchte sagen, dass nicht Gott diesen Krieg zulässt, sondern dass jeder Krieg von einem Menschen verursacht wird, der ihn zulässt.
Das entsprich gewiss nicht Gottes Wille, sondern das Werk dieser bösen Person, dieser einfach nur kriminellen Person, die einfach böse ist. Und alle Menschen, die uns beobachten, werden zu bösen Menschen, zu Kriminellen, da sie keine Teilnehmer dieses Verbrechens sind. Da sie nicht handeln, sind sie dem Bösen gegenüber gleichgültig. Sicher ist es böse, aber was sollen wir denn tun? Was soll ich zum Beispiel als Priester tun? Was sollen wir mit Menschen tun, die in dieser Welt leben?
Wir müssen sie lehren, das Leben zu lieben, damit es keinen Ruf nach Rache gibt. Aber Rache wäre nicht genug. Selbst wenn man sieht, dass es dem bösen Menschen Spaß machen würde, wäre das nicht gut. Spirituelle Menschen, Gläubige, die in die Kirche gehen, können anderen Menschen ein Beispiel sein und ihnen zeigen, wie man das Leben liebt. Glaube ist eine Quelle der Liebe für unser Leben. Ich als Priester kann sagen, dass mir mein Glaube dabei hilft, damit zu leben. Vielleicht können Menschen aus anderen Konfessionen andere Dinge nennen, aber für mich ist es Liebe, die Schmerz heilt.
Um andere mit Liebe zu heilen, braucht man jedoch kein theoretisches Wissen, sondern muss so handeln, wie es in dem Buch „Krieg“ steht, das zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Wir wissen, dass der ernsthafte Krieg, wie ich vermute, eine neue Theologie sein sollte, in der wir unsere eigene Position einnehmen. Jeder Mensch sollte auf der Seite des Guten oder des Bösen stehen. Ich werde meine Gemeinde oder die Menschen, die ich kenne, nicht beschuldigen, aber ich weiß, auf welcher Seite sie stehen. Ich weiß, dass das Böse auf der ganzen Welt geschieht, aufgrund der Tatsachen in dieser Welt und all der Berichte über Folter und ermordete Menschen, über all die Kriege in Afrika, in Syrien, in der Ukraine. All das ist nicht von Gott, sondern von Menschen gemacht.
Vielen Dank für deinen Beitrag, in dem du uns darauf aufmerksam gemacht hast, dass der Krieg konkrete Phasen hat und dass diejenigen, die ihn führen, nicht Gott sind. Du hast auch darauf hingewiesen, dass diejenigen, die den Krieg begonnen haben, konkrete Ziele haben, die wir benennen können. Zudem hast du betont, wie wichtig es ist, nicht neutral zu sein, sondern auf der Seite des Guten und des Lebens zu stehen – nicht nur in diesem Krieg, sondern in allen Kriegen, die in der Welt stattfinden.
Pater Serhij Dmytriev, Militärseelsorger der Orthodoxen Kirche der Ukraine und Vorsitzender des Vorstands von Eleos Ukraine
Vielen Dank, Pater Oleh, für deine Vorträge und dafür, dass du daran erinnert hast, dass dies eine Zeit großer Chancen für unser Land ist. Die Kirchenoberhäupter haben zu Beginn des Krieges gesagt, dass für viele von uns die Zeit großer Herausforderungen begonnen hat. Und auch dafür, dass du daran erinnert hast, dass es diese doppelte Realität gibt: Einerseits leben die Ukrainerinnen und Ukrainer in Trauer, Traurigkeit und Einsamkeit, andererseits sollten wir diese Lebenserfahrungen mit Inspiration und Hoffnung verbinden. Darauf käme es jetzt an. Ich danke dir, dass du uns das so deutlich gemacht hast.
Nun bitte ich Pater Serhij Dmytriev. Er wird auf Ukrainisch sprechen und wir werden ihm bei der Übersetzung ins Englische helfen. Pater Serhij ist Militärpfarrer der Orthodoxen Kirche der Ukraine und Vorstandsvorsitzender von Eleos Ukraine. Er begegnet dem Krieg sowohl als Militärseelsorger als auch als Leiter des Sozialministeriums in der Ukraine. Pater Serhiy, könnten Sie uns bitte von Ihren Erfahrungen mit der Gegenwart Gottes an Orten des Leidens, wie Butscha und Irpin, erzählen? Wie sieht man die Gegenwart Gottes und wie erklärt man sie Menschen, die leiden und sich einsam fühlen?
Es ist mir eine Ehre, unter so großen und gelehrten Theologen und Professoren zu sein. Ich bin weder Professor noch Theologe, daher bitte ich um Verständnis dafür, dass ich kein Englisch spreche. Ich spreche nur Ukrainisch. Die Stadt Lemberg ist für mich ein wichtiger Ort, weil ich dort früher und auch jetzt ein Heim für Frauen leite, die als Kinder gelitten haben. Zwei Tage nach der Befreiung von Butscha bin ich mit Militärs in die Stadt gekommen. Wir haben gesehen, dass immer noch Leichen von Zivilisten sowie Hunde und andere Haustiere auf den Straßen lagen.
Doch ich möchte mit etwas anderem beginnen: Das Wissen, das wir durch unsere Trauererfahrung erlangen, unterscheidet sich vom allgemeinen Wissen. Ich denke zum Beispiel an die Menschen, die vor den Kriegen in Afrika oder aus dem Foltergefängnis Sednaja in Syrien fliehen mussten. Ich bin sicher, dass ich den syrischen Bürgerkrieg, die Angriffe auf einige Städte und die Menschen in Al-Muthaqa heute als Mensch etwas besser verstehe. Ich möchte diesen Menschen mein Beileid aussprechen.
Mir geht es wie einigen anderen, die gesagt haben, dass für sie die alte Theologie danach nicht mehr existiert. Es braucht eine andere Theologie, die sich aus all diesen weltweiten Ereignissen entwickeln muss. Meine Erfahrung mit diesem Krieg ist, dass ich seit elf Jahren im Krieg bin. Als Militärpfarrer habe ich viele Menschen beerdigt. Als Militärseelsorger, als Priester und als Mensch helfe ich anderen, das durchzustehen. Ja, und auch, um zu verstehen, wie sich die Menschen im Krieg fühlen.
Zunächst einmal ist es ein Schrei nach Gerechtigkeit, und wir wollen, dass die Wahrheit siegt. Wir wollen die ganze Welt fragen: Weshalb sieht die Welt für uns so aus? Wo gibt es Gerechtigkeit? Gerechtigkeit. Ein großes Wort. Die Welt beobachtet uns und der erste Wunsch ist das Gute. Meine einfache Erfahrung als Priester und Mensch ist, dass Gott diesen Kummer und diese Gewalt zulässt. Ich möchte sagen, dass nicht Gott diesen Krieg zulässt, sondern dass jeder Krieg von einem Menschen verursacht wird, der ihn zulässt.
Das ist gewiss nicht Gottes Wille, sondern das Werk dieser bösen Person, dieser einfach nur kriminellen Person, die einfach böse ist. Und alle Menschen, die uns beobachten, werden zu bösen Menschen, zu Kriminellen, da sie keine Teilnehmer dieses Verbrechens sind. Da sie nicht handeln, sind sie dem Bösen gegenüber gleichgültig. Sicher ist es böse, aber was sollen wir denn tun? Was soll ich zum Beispiel als Priester tun? Was sollen wir mit Menschen tun, die in dieser Welt leben?
Wir müssen sie lehren, das Leben zu lieben, damit es keinen Ruf nach Rache gibt. Aber Rache wäre nicht genug. Selbst wenn man sieht, dass es dem bösen Menschen Spaß machen würde, wäre das nicht gut. Spirituelle Menschen, Gläubige, die in die Kirche gehen, können anderen Menschen ein Beispiel sein und ihnen zeigen, wie man das Leben liebt. Glaube ist eine Quelle der Liebe für unser Leben. Ich als Priester kann sagen, dass mir mein Glaube dabei hilft, damit zu leben. Vielleicht können Menschen aus anderen Konfessionen andere Dinge nennen, aber für mich ist es Liebe, die Schmerz heilt.
Um andere mit Liebe zu heilen, braucht man jedoch kein theoretisches Wissen, sondern muss so handeln, wie es in dem Buch „Krieg“ steht, das zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Wir wissen, dass der ernsthafte Krieg, wie ich vermute, eine neue Theologie sein sollte, in der wir unsere eigene Position einnehmen. Jeder Mensch sollte auf der Seite des Guten oder des Bösen stehen. Ich werde meine Gemeinde oder die Menschen, die ich kenne, nicht beschuldigen, aber ich weiß, auf welcher Seite sie stehen. Ich weiß, dass das Böse auf der ganzen Welt geschieht, aufgrund der Tatsachen in dieser Welt und all der Berichte über Folter und ermordete Menschen, über all die Kriege in Afrika, in Syrien, in der Ukraine. All das ist nicht von Gott, sondern von Menschen gemacht.
Vielen Dank für deinen Beitrag, in dem du uns darauf aufmerksam gemacht hast, dass der Krieg konkrete Phasen hat und dass diejenigen, die ihn führen, nicht Gott sind. Du hast auch darauf hingewiesen, dass diejenigen, die den Krieg begonnen haben, konkrete Ziele haben, die wir benennen können. Zudem hast du betont, wie wichtig es ist, nicht neutral zu sein, sondern auf der Seite des Guten und des Lebens zu stehen – nicht nur in diesem Krieg, sondern in allen Kriegen, die in der Welt stattfinden.
Dr. Taras Dyatlik ist Vizerektor für Entwicklung und internationale Zusammenarbeit am Osteuropäischen Institut für Theologie, Leiter der Sozialarbeit bei Scholar Leaders International und Berater für theologische Ausbildung beim Overseas Council – United World Mission
Nun kommen wir zu unserem nächsten und letzten Redner, der gerade ein Seminar in Moldawien organisiert hat. Es ist interessant, dass einer aus den USA in die Ukraine kommt und zwei weitere Redner nach Europa. Aber ich denke, auch sie haben dort eine wichtige Mission zu erfüllen. Taras ist Vizedirektor für Entwicklung in der Internationalen Gemeinschaft
Wie ihr alle wisst, herrscht in seiner Heimat ein Krieg. Er ist ein sehr engagierter Diener Gottes in einer Gemeinde, sowohl ein seiner pastoralen und als auch der sozialen Arbeit. Dort arbeitet er eng mit Menschen zusammen, die Leid und Not erfahren. Die Frage ist: Was würdest du tun, um den Trauernden Trost zu spenden? Du teilst deine Gedanken über deine Trauer oft auf verschiedenen sozialen Plattformen. Wenn du ins Ausland reist, triffst du oft Menschen, die das Leben in der Ukraine nicht vollständig verstehen. Manche glauben sogar den russischen Erzählungen, dass die Ukrainer erschöpft sind und um jeden Preis Frieden suchen sollten.
Wie sprichst du selbst über deinen Schmerz und zeigst uns, dass es ein Weg ist, den wir gehen müssen, und dass unsere eigentliche Stärke in unserer Zerbrechlichkeit und Schwachheit liegt, die uns auch nötige Widerstandskraft geben kann trotz alem weiterzumachen? Das Wort gehört nun dir.
Liebe Freunde, Christus ist auferstanden! Ich befinde mich gerade auf dem Weg zurück nach Hause in die Ukraine. Ich habe es leider nicht rechtzeitig zu euch geschafft, freue mich aber sehr darauf, euch alle zu sehen, und danke euch für die Einladung. Als Ukrainer befinden wir uns heute tatsächlich in einer Zeit wie am Karsamstagmittag, in dieser damals sehr angespannten und ungewissen Zeit zwischen Kreuzigung und Auferstehung. Wir haben unsere Lieben begraben, aber wir warten hartnäckig auf den Morgen, der unendlich weit entfernt scheint. Dieser Brief an meinen Bruder Andrij entsteht in diesem theologischen Grenzbereich, in dem Glaube auf unbändige Trauer trifft.
Was nun folgt, ist keine akademische Theologie, sondern eine sehr leibhaftige Theologie: in Tränen geschrieben, in Ritualen gesprochen, in Prozessionen verkörpert. Am 21. Juli 2024 um 6:30 Uhr morgens hörte das Herz von Andrij Dyatlik, Oberleutnant im Sanitätsdienst, auf zu schlagen. Mein jüngerer Bruder – ein begabter Militärarzt, ein treusorgender Sohn und ein geliebter Freund – war am 6. Juli, seinem 33. Geburtstag, in der Region Cherson von den Russen schwer verwundet worden. Die Symbolik seines Alters, das den irdischen Jahren Christi entspricht, ist unserer trauernden Familie nicht entgangen.
Am 24. Juli begleitete ich Andrijss Leichnam vom Unabhängigkeitsplatz in Riwne zu seiner letzten Ruhestätte in der Heldenallee auf dem Friedhof „Nove“. Dies war der dritte schreckliche Verlust unserer Familie durch die russische Aggression – ein Bruder und zwei Mitglieder der Großfamilie. Noch während wir um Andrij trauerten, kämpften vier weitere Familienmitglieder an vorderster Front in den Schützengräben, sodass unsere Trauer zu einem Zustand ständiger Wachsamkeit wurde.
Mit dieser überarbeiteten Fassung meines Abschiedsbriefess an meinen Bruder versuche ich, eine Theologie der Trauer zu formulieren. Diese entspringt nicht den abstrakten Prinzipien der systematischen Theologie, sondern der nackten Wirklichkeit der Särge mit den Fahnen und den knienden Gemeinden auf den Straßen. Ich erlebe, wie der Glaube einen Raum schafft, in dem der Protest gegen das Böse und die Hoffnung auf die Auferstehung widerspruchsfrei nebeneinander bestehen können.
Ich erlebe, wie unser nationales Trauma in gemeinsamen Symbolen und Ritualen zum Ausdruck kommt. Und ich erlebe, wie eine authentische theologische Reflexion aus dem Leid eines umfassenden Krieges erwächst. Keine Kirche und kein Seminar kann uns eine einfache Antwort auf unsere Frage nach dem Bösen geben. Sie können jedoch den Trauernden beistehen, die ganze Tiefe unseres Schmerzes anerkennen und gleichzeitig auf die Hoffnung der Auferstehung hinweisen. Dieser Brief zeugt von dieser Spannung, von der unmöglichen Herausforderung, von Gottes Güte aus dem Tal des Todesschattens herauszusprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Theologinnen und Theologen, ich lege dieses sehr intime Zeugnis deshalb ab, um zur Entwicklung pastoraler Ansätze beizutragen, die weder die Realität des Traumas verharmlosen noch sich der Endgültigkeit der Verzweiflung ergeben.
Lieber Bruder Andriy, an diesem heiligen Ort zwischen Himmel und Erde schreibe ich dir als Bruder und Theologe, auch wenn die Stimme des Bruders heute lauter schreit. Der Psalmist spricht von Wassern, die die Seele überfluten. Ich verstehe das jetzt nicht als Metapher, sondern als erlebte Realität. Meine Theologie hat sich in Tränen verwandelt.
Als ich die Nachricht von deinem Tod erhielt, erlebte ich das, was die alten Hebräer „shevirat ha-lev“ nannten – das Zerbrechen des Herzens. Wir waren sechs Brüder, jetzt sind wir nur noch fünf, und in dieser numerischen Verkleinerung liegt eine kosmische. Der Gott, der die Sterne zählt und sie beim Namen nennt, hat tatsächlich gespürt, wie sich das Universum zusammenzog, als dein Name von der Gegenwart in die Vergangenheit wechselte. Wie David damals, als er den Tod seines Freundes Absalom betrauerte – obwohl du gar nicht Absalom bist –, so rufe ich heute: „Mein Bruder, mein Bruder! Wäre ich doch an deiner Stelle gestorben!
In diesem „Van“ auf dem Weg zur „Allee der Helden“ saß ich neben deinem mit Fahnen bedeckten Sarg – als „homo dolens“ und „homo theologicus“, der leidende und der theologische Mensch, vereint in einem gebrochenen Körper. Der dunkle Lack deines Sarges spiegelte meine Fragen nach der göttlichen Gegenwart im Tal des Todesschattens wider. Ich vertraue darauf, dass du bei Christus bist, doch mein begrenztes Verständnis vermag die Kluft zwischen hier und dort nicht zu überbrücken. Das ist das „mysterium tremendum“ des Todes – schrecklich in seiner Gewissheit, geheimnisvoll in seinem Übergang vom Tod zum neuen Leben.
Die weißen Trauerbänder um den Sarg sprechen eine visuelle Theologie der Reinheit und des Verlusts. Wie die zerrissenen Kleider der Trauernden in der biblischen Geschichte machen sie unsere innere Zerrissenheit sichtbar. Diese Bänder verbinden nicht nur deinen Sarg, sondern auch die kollektive Wunde unserer Familie: Eltern, die ihr Kind nicht überleben, Schwestern, die ihren Beschützer verloren haben, und deine fünf Brüder, deren Kreis nun unvollständig ist. In unserer Tradition sprechen wir vom nahtlosen Gewand Christi. Im Tod ist es zerrissen, aber wir vertrauen darauf, dass es in der Auferstehung neu gewebt wird.
Dieses Holzkreuz vor mir, eingehüllt in ein besticktes Ritualtuch, ist das zentrale Paradoxon unseres Glaubens – das Hinrichtungsinstrument, das zum Symbol der Transzendenz geworden ist ... Dein Name, der darauf eingraviert ist, reiht dich ein in die große Gemeinschaft der Heiligen, die vor uns durch das Tor des Todes gegangen sind. Ich erinnere mich daran, wie ich von Bonhoeffers „Preis der Nachfolge“ gesprochen habe – und ich hätte nie gedacht, dass dieser Preis so wörtlich und so endgültig sein würde. Aber selbst in meiner Trauer höre ich das Echo von Ostern: „Das Kreuz ist leer, Christus ist auferstanden.“ Das ist unsere persönlich gewordene „Theologie des Kreuzes“ – keine abstrakte Theologie, sondern gelebte Wirklichkeit.
Der immergrüne Zypressenkranz in der Ecke hält seine stille Predigt der Unsterblichkeit. Während dein Körper durch russische Gewalt zerstört wurde – eine Manifestation der Fähigkeit der gefallenen Welt zum Bösen, die so viele noch immer im Namen der sogenannten traditionellen christlichen Werte zu rechtfertigen versuchen – erinnert mich die Zypresse daran, dass dein Wesen weiterlebt. Augustinus schrieb, dass das Böse ein Mangel ist, die Abwesenheit des Guten. Dein Tod ist ein solcher Mangel, ein Loch, das in das Gefüge der Schöpfung gerissen wurde.
Aber unser gemeinsamer Glaube sagt uns, dass das, was als Abwesenheit erscheint, lediglich ein Übergang ist. Das Weiß, das auf den Zweigen Reinheit symbolisiert, erinnert mich an die Verheißung der Offenbarung: Diejenigen, die im Blut des Lammes gewaschen wurden, stehen in weißen Gewändern vor dem Thron. Ich stelle mir vor, dass du jetzt dort bist, Andriy, gekleidet in die Würde der Auferstehung.
Wenn ich durch das Fenster dieses Autos auf die Versammelten auf unserem Maidan blicke, werde ich Zeuge der „Communio Sanctorum“, der Gemeinschaft der Heiligen, die hier auf Erden sichtbar wird. Diese trauernden Bürger bilden ein irdisches Echo der himmlischen Versammlung. Im Buch Hebräer wird eine „große Wolke von Zeugen“ beschrieben, die uns umgibt. Heute materialisieren sie sich in Fleisch und Tränen ... Ihre Anwesenheit bildet eine liturgische Gemeinschaft, die an dem teilnimmt, was die frühe Kirche als „Heiliges Gedenken“ bezeichnete. In ihren Gesichtern sehe ich das Abbild Gottes, das sich in der Trauer widerspiegelt. Jeder Mensch trägt Gottes Abbild, wenn er deines ehrt.
Die Prozession durch die Straßen von Riwne war für mich eine öffentliche Theologie der Klage. Wenn Fahrer und Beifahrer anhielten und die Leute auf ihre Knie gegangen sind, bevor wir vorbeifuhren, erlebte ich einen sakramentalen Moment: Das Alltägliche verwandelte sich in ein heiliges Zeugnis. Auch du bist so oft in meinem Gebet für dich niedergekniet, Andrij, jetzt waren es andere für dich.
Das ist Kenosis, Selbstentäußerung vor dem Geheimnis des Weges Gottes. Dein Kniefall stellt die Frage, die auch ich mir immer wieder stelle: Wird dieses Opfer, zusammen mit so vielen anderen, unserem leidenden Volk endlich Erlösung bringen? Wie Abraham, der zum Berg Moria geht, gehen wir zur Allee der Helden. Wir tragen unser geliebtes Opfer und stellen uns der schwierigsten Forderung des Glaubens.
Unsere private Trauer wird in der Allee der Helden zur nationalen Klage über all unsere Verluste. Wie die alten Israeliten, die gemeinschaftliche Trauerrituale schufen, nehmen wir an der kollektiven Verarbeitung dieses Traumas teil. Deine 33 Lebensjahre, die die irdische Lebensspanne Christi widerspiegeln, fügen sich nun in die theologische Erzählung von der aufopfernden Liebe ein. „Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde“, heißt es im Evangelium. Deine ärztliche Berufung zum Heilen hat sich in eine andere Art des Heilens verwandelt, die für uns einen schrecklichen Preis hat.
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