
„Schlimmer als der Tod“: Ukrainer berichten vom Folter-Horror in russischer Gefangenschaft
Schläge, Vergewaltigung, Elektroschocks im Genitalbereich: Aus russischen Folterlagern werden immer neue Gräueltaten bekannt. Ein Überlebender und ein Menschenrechtler berichten.
Von Yulia Valova Tagesspiegel
30.06.2025, 23:04 Uhr
Andrijs Bauch ist zum Symbol russischer Brutalität geworden. „Slawa Rossii“ – „Ruhm für Russland“ – prangt dort in dicken, schwülstigen Narben. Der Schriftzug wurde mit einem chirurgischen Gerät eingebrannt. Auch der Buchstabe Z, Unterstützungssymbol für Wladimir Putins Angriffskrieg, ist in die Haut eingraviert.
Andrij ist ukrainischer Soldat, bis vor Kurzem saß er als Kriegsgefangener in einem der russischen Lager. Anfang Juni kam er infolge eines Gefangenenaustauschs frei.
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Ein Foto seines entstellten Unterleibs landete schnell in den sozialen Netzwerken. Der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Andrij Jussow, bestätigte die Echtheit der Aufnahmeebenso wie Ärzte des Reha-Zentrums „Neopalymi“ in der westukrainischen Stadt Lwiw, wo Andrij derzeit behandelt wird. Seitdem beschäftigt der grausame Fall das ganze Land.

„Ruhm für Russland“ – diese Worte wurden dem ukrainischen Soldaten Andrij während russischer Gefangenschaft in den Bauch gebrannt. © Maksym Turkevych/Facebook
Andrij, so viel ist mittlerweile bekannt, erlitt vor mehr als 15 Monaten auf dem Schlachtfeld eine Splitterwunde im Leistenbereich. Er verlor das Bewusstsein und geriet in russische Gefangenschaft.
Nun, endlich zurück in der Ukraine, steht dem Mann ein langer Weg hin zur Genesung bevor. Mit aufwendiger Laserbehandlung und speziellen Injektionen soll der pro-russische Schriftzug nach und nach aus der Haut des ukrainischen Opfers verschwinden. Ob es vollständig gelingt, ist noch nicht absehbar.
Die Folter hat System
Andrijs Geschichte ist ein besonders schockierender Fall russischer Folter von ukrainischen Kriegsgefangenen. Eine Ausnahme ist er aber nicht.
In sechs Monaten habe ich mich nur zwei Mal gewaschen.
Überall waren Läuse.
Ihor Rosdobudko, ein ukrainischer Militärarzt,
der in russische Kriegsgefangenschaft geriet
Viele der ukrainischen Männer und Frauen, die infolge der großen Gefangenenaustausche in den vergangenen Wochen in ihre angegriffene Heimat zurückkehrten, waren sichtlich krank und abgemagert.
Angaben des ukrainischen Koordinierungsstabs für die Behandlung von Kriegsgefangenen zufolge wiesen fast alle der zuletzt freigelassenen SoldatenSpuren von Folter auf. Darunter waren demnach gebrochene Rippen, ausgeschlagene Zähne, verletzte Genitalien sowie Verbrennungen und Hämatome.
Auch inhaftierte ukrainische Zivilisten sind massiver Gewalt ausgesetzt. Laut einer internationalen Medienrecherche, an der unter anderem die britische Tageszeitung „The Guardian“ beteiligt war, werden sie in 180 verschiedenen Haftanstalten festgehalten. In 29 davon sei ein „systematischer Einsatz von Folter“ festgestellt worden, heißt es in dem Bericht.
Ein Fall, der international für große Aufmerksamkeit sorgte, war der der inhaftierten ukrainischen Journalistin Viktoria Roschtschyna, die im Herbst 2024 im berüchtigten russischen Foltergefängnis in Taganrog starb. Allem Anschein nach wurde sie zu Tode gequält. Als ihr lebloser Körper schließlich im Februar dieses Jahres in die Ukraine überführt wurde, fehlten mehrere Organe, darunter Teile des Gehirns.
Schläge und Wassermangel
Auch Ihor Rosdobudko, ein ukrainischer Militärarzt, kann viel über die Zustände in russischen Gefängnissen erzählen. Im Frühjahr 2022, wenige Monate nach Kriegsbeginn, geriet er in der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer in Gefangenschaft. Im Jahr 2023 wurde er befreit.
Pro Person gab es nur ein Glas Wasser pro Tag.
Also musste man sich entscheiden: Wäscht man seine Unterhose oder trinkt man.
Ihor Rosdobudko, ein ukrainischer Militärarzt,
der in russische Kriegsgefangenschaft geriet
„Während der Gefangenschaft wurden wir regelmäßig geschlagen“, erzählt er dem Tagesspiegel. „Die Russen nannten das ,Präventionsmaßnahme‘“.
Zusammen mit 25 weiteren Männern sei er in eine Zelle gepfercht worden, die nur für zehn Insassen ausgelegt gewesen sei. „In sechs Monaten habe ich mich nur zwei Mal gewaschen. Überall waren Läuse“, erinnert sich Rosdobudko.
„Pro Person gab es nur ein Glas Wasser pro Tag. Also musste man sich entscheiden: Wäscht man seine Unterhose oder trinkt man.“ Oft sei das Wasser aus einem Löschtank geschöpft worden – mitsamt Chemikalien darin.
Ihm als Arzt sei es außerdem verboten worden, kranken Mithäftlingen zu helfen. „Die Menschen starben einfach in ihren Zellen.“
Vergewaltigung von Insassen weit verbreitet
Laut dem Menschenrechtler Mychajlo Sawwa haben solche Misshandlungen System: „Die Russische Föderation verstößt nicht nur gegen das humanitäre Völkerrecht, sie begeht auch massiv und systematisch Kriegsverbrechen an ukrainischen Kriegsgefangenen und Zivilisten.“
Nach Angaben seiner Organisation Center for Civil Liberties werden derzeit mehrere Tausend Ukrainer ohne Anklage und Gerichtsverfahren festgehalten. „Das ist ein brutaler Verstoß gegen die Genfer Konvention“, sagt der Politologe.
Die Russen wissen, dass Vergewaltigung in der ukrainischen Kultur völlig inakzeptabel ist.
Besonders für viele Männer ist sie schlimmer als der Tod.
Mychajlo Sawwa, ukrainischer Menschenrechtler
Die Formen von Misshandlung, die Sawwa und seine Kollegen dokumentieren, sind vielfältig: „In den Zellen herrscht Sauerstoffmangel, was zum Ausbruch von Tuberkulose und anderen Krankheiten führt“, erklärt er. „Außerdem haben viele Gefangene keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, sie leiden unter Mangelernährung und Gewichtsverlust.“
Aus einzelnen Haftanstalten, etwa in der südrussischen Stadt Rostow am Don, seien den Menschenrechtlern noch weitere, perfide Foltermethoden bekannt, fügt er hinzu: „Dort sprühen die Wachen Tränengas in die Zellen, in denen Ukrainer sitzen.“
Mychajlo Sawwa ist Menschenrechtler und Mitglied der ukrainischen Organisation Center for Civil Liberties, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Eines der schmerzhaftesten Themen aber sei sexualisierte Gewalt, die an ukrainischen Häftlingen verübt werde. „Aufgrund tiefer Traumata, Scham und Angst werden diese Fälle selten öffentlich“, erläutert Sawwa. „Doch wir haben genügend Beweise, um von einem systematischen Muster zu sprechen.“
Nicht nur Frauen würden vergewaltigt, auch Männer. Außerdem seien Fälle dokumentiert, in denen Insassen gezielt immer wieder in die Genitalien geschlagen wurden oder ihnen in dieser empfindlichen Körperregion Elektroschocks zugefügt worden seien.
Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt seien auch Ausdruck von „psychologischem Terror“, betont der Experte: „Die Russen wissen, dass Vergewaltigung in der ukrainischen Kultur völlig inakzeptabel ist“, erklärt er. „Besonders für viele Männer ist sie schlimmer als der Tod. Genau deshalb tun sie uns das an.“
In der Ukraine sind all diese Gräueltaten bekannt – doch der Aufschrei der internationalen Gemeinschaft sei zu verhalten, findet der Menschenrechtler. „Es wurden bislang etwa keine gezielten Sanktionen wegen der Folter von Kriegsgefangenen oder wegen der unrechtmäßigen Inhaftierung von Zivilisten verhängt“, kritisiert er.

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