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Vogelkäfig, Ei und Vulkan - Wie sich eine Depression anfühlt

 

Wolke, Ei und Vulkan

Wie sich eine Depression anfühlt

 

Wenn ich ein Bein gebrochen habe, sehen es alle, was geschehen ist. Sie fragen nach den näheren Umständen und wünschen mir eine gute und vollständige Erholung. Anders ist es mit psychischen Krankheiten. Manchmal bemerken wir bei einer Person ein auffälliges Verhalten. Es befremdet uns und wir fragen aber nicht nach. Wir weichen diesen Menschen eher aus, weil wir uns überfordert fühlen. Was nicht «normal» ist, ist schwierig.

 

Doch es gibt auch psychische Krankheiten, die dem Auge verschlossen bleiben und erst eine nähere Kenntnis Auffälligkeiten erkennen lassen. Da ist ein Mensch, der früher sehr leutselig war, gerne unter Menschen ging, aber kaum mehr sichtbar wird. Oder wir begegnen ihnen und ahnen nicht, wie sie leiden leidet. Das Innere ist uns verborgen und das ist manchmal gut so, ein Schutzmechanismus.

 

Falls wir doch erfahren, was los ist: Wie lässt es sich verstehen? Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, bis ich selbst betroffen war. Ich habe zwar Kenntnisse gehabt, einiges über Formen und Wesen einer Depression gelesen. Das gehört zur Grundausbildung eines Seelsorgers.

 

Im Rückblick empfinde ich, dass ich es weit unterschätzt habe, wie leidend solche Menschen sind. Und wie wenig hilfreich es ist, sie mit Ratschlägen zu überfallen. «Das kommt schon wieder». «Kopf hoch.» «Nimm es jetzt gelassen, gönne dir etwas Schönes, ruhe dich aus.» «Nimm dir eine Auszeit und mach das, was dir Freude macht.»

 

Doch wie soll das denn gehen. Du siehst überhaupt nicht, wie das gut werden soll, es wird immer noch schlimmer. Woher soll ich die Kraft hernehmen, den Kopf zu erheben? Früher hast du dich über so vieles gefreut. Jetzt magst du es nicht einmal ansehen oder daran denken. Ich zum Beispiel mochte in der akuten Phase keine Zeitung oder Bücher lesen, eine Doku sehen, Musik hören, mit dem Bike unterwegs zu sein. Alles war zu viel. Und ausruhen: Du verbringst den ganzen Morgen im Bett, die Decke über den Kopf gezogen. Erholsam ist das nicht, im Gegenteil. Einmal nur nichts zu tun, ist keine Lösung. Im Gegenteil: Du musst dir ein kleines Arbeitsprogramm schaffen. Es ist viel, wenn du aufstehst, dich pflegst und etwas isst. Oder eine Antwort zu geben, wenn jemand dich fragt. Nach einer Therapiestunde bist du völlig erschöpft. Dabei hast du gar nicht viel gemacht.

 

 

Mir helfen drei Bilder, zu beschreiben, wie es sich mit einer Depression anfühlt:

 

Vogelkäfig,  Ei und Vulkan

Die Fotos illustrieren es. Die beiden ersten sind Gemälde aus der Galerie für moderne Kunst in der Hauptstadt von Georgien. Als ich sie sah, war es nach erfolgreicher Bewältigung meiner ersten depressiven Episode. Sie haben mich sehr berührt. im ersten Bild begegnet uns ein Käfig im Kopf eines Menschen, in dem Vögel wohnen. Im Bild ist die Türe offen, und die Vögel können ausfliegen. Das zweite ist ein Ei, in dem ein Mensch sich hinkauert. 

 

 

Vogelkäfig

Martin Luther hat einmal gesagt: Du kannst nicht verhindern, dass sich Vögel in deinem Kopf melden. Du kannst aber verhindern, dass sie sich einnisten.

 

Der depressive Mensch kämpft mit diesen Vögeln. In seinem Kopf ist es wie in diesem Bild: Das Depressive hat sich eingenistet. In deinem Kopf ist wie ein Gefängnis geworden, doch ohne offene Tür.

 

Immer dieselben Gedanken drehen in dir. Du weisst sehr wohl, dass sie dir nicht guttun. Du ist eingeschränkt in deinem Denken und Fühlen, manchmal auch in deiner Bewegung. Du schleichst dahin. Du bringst die Worte nicht zusammen, wenn du etwas beschreiben musst. Wenn dir jemand zehn Worte sagt, an die du dich erinnern sollst, weisst du nachher nur noch zwei oder drei. So wird übrigens getestet, ob jemand eine Depression hat.

 

Mit Hilfe von Medikamenten, die im Hirn uns stimulieren können, lässt sich dieses Gefängnis öffnen. Was sich eingenistet hat, depressives Denken und Handeln, kann sich lösen. Manchmal ist es ein langer Weg, herauszufinden, welches Medikament wirkt und in welcher Dosis. Wenn es so weit ist, wird eine psychotherapeutische Arbeit möglich.

 

Das Ei

Du kommst dir mit deiner Existenz eingeschlossen vor wie in diesem Bild. Der Mensch krümmt sich und nimmt die Gestalt eines Embryos ein. Manchmal möchtest du verschwinden. Du ziehst dich völlig in dich zurück. Deine Krankheit ist wie eine Schale, die du nicht sprengen kannst. Was um dich geschieht, siehst du nicht. Es gibt für dich keine andere Welt.

 

Es ist harte und langwierige Therapiearbeit, bis sich die Schale sprengen lässt, und du dich wieder erheben kannst. Wenn es gelingt, fühlt es sich wie ein neues Leben an. Deshalb der Titel meines Buches: «Zurück zum Leben.»

 

Der Vulkan

80% der Menschen, die eine mittelschwere oder schwere depressive Phase erlitten, kennen Rückfälle. Es ist eine sehr ernüchternde Erkenntnis, wenn dir eine therapeutische Fachperson nach erfolgreicher Behandlung auf die Frage: Bin ich geheilt? antworten muss: Das weiss ich nicht. Hoffen dürfen wir. Doch Sie können jederzeit wieder kommen. Dann gehen wir gemeinsamen den Weg durch die erneute Episode – und auch sie wird enden.

 

Ich kenne die Angst über einen möglichen Rückfall. Gottlob ist sie nicht jeden Tag da. Ich habe viele Monate erlebt, die wirklich unbeschwert waren und an die ich dankbar denke.

 

Wer eine depressive Episode bewältigt, weiss mehr über seine Krankheit. Er kann sich Gedanken über vorbeugende Massnahmen machen. Er kennt sich und seinen Körper besser und kann achtsam sein.

 

Ich habe erlebt, wie sich mein Bewegungshorizont und meine Unternehmungslust verkleinert haben. Ich versuchte mich durch mehr Schlaf zu erholen, weil ich vermehrt so erschöpft war. Oft war es ein unruhiger Schlaf, viel wirre Träume, mehrfaches Aufwachen. Ich war nach einer kurzen Wanderung nudelmüde. Nach einer Operation – Entfernung meiner Prostata wegen Krebs – erlitt ich im Spitalbett eine Panikattacke. Ich wurde sehr unruhig, hielt es nicht mehr aus, nur daliegen zu müssen mit einer Magensonde.

 

Da waren deutliche Vorzeichen. Ich nahm sie wahr, hoffte aber, dass es vorübergeht und nicht zu einem grossen Vulkanausbruch kommt.

 

Ich wünschte mir schon lange, einen richtigen Vulkan zu sehen. Ich wählte dazu den grössten in Europa, den Ätna. Ab Meeresoberfläche steigt er auf 3400 m hoch und hat viele Seitenkrater. Damals, als ich zusammen mit meiner Frau an einem Seitenkrater stand, auf über 2000 m, hat es uns fast umgeweht. Hinter uns war ein Schneefeld, bedeckt mit frischer Asche.

 

Um den Berg gibt es viele Überwachungsstationen. Es ist wichtig, einen Ausbruch rechtzeitig erkennen zu können und zu warnen.

 

Die Warnsignale habe ich erkannt, aber zu wenig ernst genommen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, durch eine frühzeitige Behandlung – einem Zusatzmedikament, auf das ich gut anspreche – den grossen Ausbruch zu verhindern. Vielleicht. Doch wie ein Vulkan ist eine Depression nicht einfach beherrschbar.

 

Nun bin ich in der Phase der Nachbeben, die sich hie und da noch melden, aber rasch wieder vorbei sind. Der Ätna steht nicht im Dauerausbruch. So auch nicht meine Depression.

 

Was mir am Ätna auch bewusst geworden: Er führt zu einer ausserordentlichen Fruchtbarkeit. Die dort typischen Reben ergeben wunderbare vollfruchtige Weine. Die Orangen gedeihen dort, überhaupt alle erdenklichen Früchte und Gemüse. Deshalb ist die Gegend so dicht bewohnt.

 

Im Blick auf meinen «Ätna» - die Depression:

Mein Leben ist nicht bloss eine Lava-Wüste. Ich kenne Fruchtbarkeit: Erlebnisse, Erfahrungen, die mich Segen erfahren liessen und dankbar machen.

 

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Kommentare: 8
  • #1

    Judith Trüssel (Samstag, 13 November 2021 18:20)

    Deine Worte haben mich sehr berührt. Obwohl ich selbst keine Depressionen erlebt habe, kann ich mir gut vorstellen ,was für eine Herausforderung das ist. Ich wünsche Dir und allen, die damit kämpfen Gottes Segen und sein Geleit ,❣

  • #2

    Sonja Kunz (Sonntag, 14 November 2021 06:58)

    Lieber Max, danke für deine Offenheit!
    Ich wünsche dir Kraft zum Durch- und Standhalten !Gott gebe sie dir!

  • #3

    Irene Hölzle (Sonntag, 14 November 2021 07:04)

    Das sind sehr gute Erklärungen für eine Depression. Dir, lieber Max wünsche ich, dass sich die Schale wieder sprengen lässt.

  • #4

    Maria (Sonntag, 14 November 2021 07:30)

    Danke,max. Mutig und stark und das in einer herausfordrden phase.
    Du bist auf einem guten weg, legst samen,veränderst.
    Sei gesegner und getragen, maria

  • #5

    Eva (Sonntag, 14 November 2021 16:52)

    Danke Max für diesen wertvollen Beitrag. Es ist für mich bewundernswert wie du Gedanken, Erlebtes und Erkenntnise in Worte fassen kannst.! Ich wünsche dir viel Geduld mit dir selber auf diesem, manchmal schwierigen Weg. Sei gesegnet!

  • #6

    Sandra (Sonntag, 14 November 2021 19:30)

    Ich bin gerade am lesen Ihres Buches: "zurück zum Leben". Es ist mir zur absoluten Kostbarkeit geworden.
    Danke, dass Sie den Mut und die enorme Kraft immer wieder aufbringen...sich dem Schmerz zu stellen und mit einer offenen und sehr feinfühligen Art Einblick gewähren und ermutigen.
    Danke, dass sie herausgetreten sind und Anteil gaben an Ihrer Geschichte, auch mit diesem Blog.
    Für mich ist es eine grosse Hilfe in meiner Lebenssituation.
    Seien Sie gesegnet!

  • #7

    Peter (Montag, 15 November 2021 11:29)

    Guten Morgen Max, ja es ist schon schwierig, etwas in dieser Richtung am Menschen zu erkennen, jedoch habe ich auch bemerkt, wenn einem jemand sehr nahe steht, spürt man die Veränderung, kann sie aber nicht zuordnen und das macht das Ganze noch schwieriger. Meist weiss man ja nicht genau, wie man solchen Menschen weiterhin begegnen soll und wie reagieren. Daher finde ich dein Offenheit ganz toll. Ich wünsche dir viel Kraft und auch die Geduld, um aus dieser Situation einigermassen heraus zu kommen.

  • #8

    Luzia (Dienstag, 23 November 2021 17:57)

    Lieber Max
    Habe eben dein Buch gelesen. Ich leide selber an schweren Depressionen und verstehe vieles sehr gut. Danke für deine Offenheit mit welcher du dieses Buch geschrieben hast.