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Kunst und Graubünden, Teil 3: Die Dorfkirche Bergün/Bravuogn

Dorfkirche Bergün/Bravuogn

Bilder: Max Hartmann, mit Ausnahme derer, die besonders bezeichnet sind und aus Wikipedia stammen

Bonus: Konzert Domenic Janett, Klarinette, und Rudolf Lutz, Orgel am Abendkonzert im Sommer 2019 

 

Im obersten Teil des Dorfes wacht die Kirche leicht abgesetzt von den eng beieinander liegenden Engadiner Häusern über dem Dorf. Sie wurde bereits 1188 errichtet. Noch vor der Bündner Reformation wurde der Chor erneuert, das Kirchenschiff neu gefasst und der romanische Kirchturm mit einem neuen Helm versetzt. 

 

Im Innern fällt zuerst die reich verzierte Holzdecke mit ihren Ornamenten auf. Dann der berühmte spätgotische Freskenzyklus als «Bilderbibel» in einer Zeit, als nur wenige bereits lesen konnten. Der Betrachter konnte sich so mit für den christlichen grundlegenden Geschichten vertraut machen und sich gleichzeitig vom Reichtum auch für heute zentralen existentiellen Themen berühren lassen.

 

Die Fresko- oder Frischmalerei (italienisch al fresco – ins Frische) ist eine Technik der Wandmalerei, die rasch ausgeführt werden muss. Sie wird auf den noch nicht durchgebundenen mehrschichtigen Grundputz gemalt. Zunächst wird aber zusätzlich ein gröberer Kalkputz auf die Wand aufgetragen, wo die Bilder zu stehen kommen, und dann weitere, immer dünnere Schichten. Schliesslich Dann wird das endgültige und sichtbar bleibende Bild in einem «Tagwerk» auf die oberste, geglättete Schicht gemalt. Korrekturen sind danach nur noch sehr beschränkt möglich.

 

Die Bergüner Fresken sind das Werk einer italienischen Wandmalerei aus der Frührenaissance im 15. Jahrhundert – einer Zeit des Aufbruchs in eine neue Epoche, mit Errungenschaften wie den Buchdruck, dem Drang zur Forschung und einer Gelehrtheit, die aus den Schätzen der Antike als einer Epoche der Hochkultur schöpfte. In dieser Zeit entstanden die ersten Banken und zahlreiche Universitäten. Im Unterschied zu zuvor ist die Kunst nicht mehr ausschliesslich durch sakrale Themen geprägt und dem religiösen Leben gewidmet.

  

Die Wandmalerei in Bergün steht jedoch noch ganz in der alten Tradition und ist auf die Hauptthemen der Botschaft des Neuen Testamentes ausgerichtet. Sie passt daher gut zu einer reformierten Kirche, die sich auf das Wesentliche konzentriert und damit Christus ins Zentrum stellt. Sie verzichtet auf legendenhafte Darstellungen und auf die damals noch vorherrschende Verehrung der Heiligen.

 

Die Botschaft beginnt auf den Wänden vorne vor dem Chor. Es handelt sich beim zweiteiligen Fresko um die Verkündigung der Schwangerschaft durch den Engel Gabriel an die junge Frau Maria. Sie wird mit Jesus den von Gott versprochenen Hoffnungsträgerer gebären. Der Zusatz «Christus» ist ein Ehrentitel und bedeutet «Der Gesalbte». Er ist mit einem Ritual verbunden, in dem die erwählte Person zur Königsherrschaft erhoben wird. So wurde auch der neue englische König, Charles III., für seine neue Aufgabe feierlich in einem Gottesdienst gesalbt.

 

Etwas merkwürdig für die Schlichtheit der biblischen Geschichte wird uns Maria als Gelehrte gezeigt, die die  unerwartete Botschaft schriftlich in den Händen hält. Vielleicht in Anlehnung an die heutige Überzeugung: «Ich glaube es nicht, wenn ich es nicht schriftlich und damit für alle belegbar vor mir habe.»

 

Hinter der Darstellung steckt die Überzeugung: Das erwartete Kind wird der versprochene und ersehnte Herrscher sein, der den Menschen den wahren Frieden bringt – das, was kein menschlicher König tatsächlich bewirken kann. Christus drückt es im Johannesevangelium so aus: «Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht einen Frieden, wie die Welt gibt, gebe ich euch. Euer Herz erschrecke nicht und verzage nicht!» (Johannes 14,27) Und später: «Das habe ich euch gesagt, damit ihr Frieden habt in mir. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.» (Johannes 16,33)

 

Es ist eine Einladung zur Gelassenheit im Laufe der persönlichen, aber auch der weltweiten Geschichte, die immer wieder geprägt ist durch unerwartete Krisen, Katastrophen und Kriege.

 

Es erinnert an einen den berühmten Satz des bedeutendsten reformierten Schweizer Theologen im vergangenen Jahrhundert, Karl Barth, der in der damaligen Zeit der 60-er Jahre, die durch den «Kalten Krieg» geprägt war – der Auseinandersetzung zwischen der westlichen Welt unter der Führung der USA und der kommunistischen Welt unter der damaligen Sowjetunion, dem heutigen Russland. Atomare Ausrüstung und die Vorherrschaft im Weltall waren die Themen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer glaubten viele an eine neue, friedliche Welt, wo die alten Konflikte endgültig begraben sind. Doch der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeigt uns eine neue Epoche geprägt durch die alten Ansprüche auf Weltherrschaft. Im neuen Russland ab 1991 kam es nie zu einer Aufarbeitung der Verbrechen des Kommunismus und damit einer ernsthaften Bewältigung der Vergangenheit.

 

Karl Barth sagte, als er mit seinem Freund Eduard Thurneysen über die damalige atomare Weltbedrohung sprach: «Nur nicht die Ohren hängen lassen, denn es wird regiert.» Damit meinte er Christus als den wahren Friedensfürsten. Es lädt uns ein, immer wieder Hoffnung und Kraft zu schöpfen, und ich im Geiste der Bergpredigt («Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heissen») für den Frieden in dieser Welt zu engagieren, so weit dies möglich ist, und nicht zu resignieren.

 

Die Verkündigung der Geburt des verheissenen Messias zeigt die aussergewöhnliche Botschaft, dass Gott «Mensch wird» - nicht in seiner Herrlichkeit fern vom Menschen bleibt, sondern sich ganz mit der menschlichen Wirklichkeit verbindet – einer unter uns wird. Zudem geschieht die Geburt ausserhalb jeder menschlichen Erwartung nicht in einer Herrschaftsfamilie unter privilegierten Verhältnissen, sondern in bescheidenen Umständen und unter damals skandalösen Bedingungen: Eine noch viel zu junge Frau aus dem Volk wird noch vor ihrer Hochzeit unerwartet schwanger, was gesellschaftlich geächtet wurde.

 

Diese Ursprungsgeschichte der christlichen Botschaft ist leitend für ein wahrhaft humanes Gottesbild und einem neuen Verständnis zur Macht. Gottes Herrschaft ist Dienst am Nächsten – und wir sollten es ihm gleichtun:

 

«Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Grossen ihre Macht gegen sie einsetzen. Unter euch soll es nicht so sein, sondern: Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.»

  

Bild Von Adrian Michael - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

 

Taufe Jesu (siehe Bild oben, ein Detailbild wird bald hinzugefügt, in meinen Ferien demnächst)

 

Die Botschaft der Fresken setzt sich auf der Empore Seite fort mit der Taufe Jesu. Nach der Geburt Jesu im Stall  von Bethlehem mit seinen bekannten Geschichten folgt im Leben Jesu eine dreissigjährige Phase, in der er mit Ausnahme einer Szene keine Erinnerungen hinterlässt. Er arbeitete wohl wie damals üblich bei seinem Vater und damit als Zimmermann beim Bau von Häusern. Was uns einzig berichtet wird, ist eine Szene der jährlichen Reise der Familie zusammen mit vielen anderen Leuten an die Feste in Jerusalem. Damals war Jesus zwölfjährig und eigentlich noch nicht mündig (was mit 14 geschah). Er machte sich beim Besuch des Tempels selbstständig und interessierte sich für die anwesenden Gelehrten, denen er durch sein bereits erwachsenes Wissen auffiel. Bei der Rückreise verloren ihn seine Eltern, nahmen aber an, dass er bei anderen mitzog. Erst spät suchten sie ihn vergeblich, was sie wie alle Eltern in Schrecken versetzte. Es blieb anderes übrig, als ihn bis nach Jerusalem zu suchen, wo sie ihn immer noch im Tempel fanden. Seine Mutter konnte sie den Vorwurf über seine Nachlässigkeit nicht verklemmen. Souverän fand dieser, er müsse dort sein, wo sein wahrer Vater sei. Offensichtlich war er sich seiner besonderen Identität bereits bewusst.

 

Die Zeit der Pubertät ist für alle eine Herausforderung. Der Heranwachsende muss sich ablösen und sucht seine eigene Wege, kennt aber seine Grenzen noch nicht. Es kommt zu Konflikten. Die Eltern müssen loslassen, ihrer Tochter oder ihrem Sohn vertrauen und ihnen grosszügig eigene Erfahrungen und Fehler zugestehen.

 

Mit der Taufe Jesu erfolgt der Übergang Jesu zu seiner eigentlichen Berufung: das Leben als Messias. Das Eintauchen ins Wasser – damals ein ganzes Untertauchen – symbolisiert den Abschied vom bisherigen Leben. Das Auftauchen führt in ein Leben als neue Existenz als Sohn oder Tochter Gottes. Damit verbunden ist die Gabe des Heiligen Geistes, im Bild gezeigt durch eine Taube, die von oben kommt. Es ist die Zusage der Leitung Gottes in allen Bereichen der neuen menschlichen Existenz.

 

Im biblischen Bericht ist zudem eine Stimme zu hören, die bezeugt: «Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.» (Markus 1,11)

 

Im Fresko ist Jesus zusammen mit Johannes dem Täufer zu sehen, einem Verwandten von Jesus, der gleichaltrig war und später zu einem Bussprediger am Fluss Jordan wurde. Verschämt wird mit einem Tuch die Nacktheit Jesu verborgen, gehalten von Johannes und einem Engel.

 

Im Unterschied zu späteren Entwicklungen in der Kirchengeschichte, indem Nacktheit und Sexualität negativ gedeutet wurde, ist die biblische Tradition ungehemmt. Nackt wurde Jesus getauft, nackt hing er am Kreuz. Nacktheit hat mit Verletzlichkeit zu tun - es zeigt mich, wie ich bin, auch ungeschönt.

 

Die damalige Taufe war mit einer persönlichen Entscheidung zum Leben mit Gott verbunden. Die bei uns übliche Kindertaufe ist als eine Handlung der Eltern zu verstehen, in der sie das ihnen geschenkte Kind der Fürsorge Gottes anvertrauen, und mit der Verpflichtung verbunden, ihm einen Zugang zum christlichen Glauben zu ermöglichen, damit später eine eigene Entscheidung möglich wird. Die Reformation schuf dazu den Unterricht über den christlichen Glauben und die Konfirmation als Bestätigung des eigenen Glaubens und zu einem persönlichen Leben unter Gottes Leitung. Heute kann nicht vorgesetzt werden, dass bei allen Jugendlichen an ihrem Fest im Übergang zum erwachsenen Leben bereits ein reifes Bekenntnis zu Gott bedeuten kann. Manchmal braucht es dazu viele Jahre und besondere Ereignisse im Leben, die dazu führen können.

  

Das Abendmahl

 

Im Zentrum der Bergüner Fresken stehen die Szenen der Passionsgeschichte und der Auferstehung – das Ende der Geschichte Jesu auf dieser Welt. Das lateinische Wort Passion hat eine doppelte Bedeutung: das Leiden und die Leidenschaft. Die Passion Jesu ist ein Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen, dass er die Hoffnung für seine Schöpfung nicht verloren hat und trotz allem an seine Geschöpfe glaubt. Liebe und Leidenschaft, Liebe und Leiden liegen nahe beieinander. Wer liebt, leidet manchmal an sich, Gott und den Menschen. Wer leidet, ist von Gott geliebt, auch wenn dieser ihm gerade weit entfernt oder nicht existent erscheint.

 

Die Passionsgeschichte beginnt nach einem feierlichen Einzug Jesu in Jerusalem gemeinsam mit seinen Jüngern zum jüdischen Passah-Fest. Das Fest erinnert an die letzte Nacht in der Gefangenschaft des jüdischen Volkes im Sklavendienst in Ägypten. Im Zentrum steht ein Mahl mit dafür  typischen Speisen mit je einem Symbolcharakter, und einem Kelch mit Wein, der nach einem Segensspruch an alle weitergeben wird.

 

Wie alle Juden feiert dies Jesus mit seinen Jüngern in einem Saal, den sie mieten konnten. Doch der gewohnte Ablauf nimmt eine besondere Wende. Jesus bezieht die Gaben von Brot und Wein auf sich und den Weg, der ihm unmittelbar bevorsteht. Wir kennen die Worte aus der Liturgie im Abendmahl:

 

«Und während sie assen, nahm er Brot, sprach den Lobpreis, brach es und gab es ihnen und sprach: Nehmt, das ist mein Leib. Und er nahm einen Kelch, sprach das Dankgebet und gab ihnen den, und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele.» (Markus 14,22-24)

 

Das Passahmahl wird für die spätere christliche Gemeinde zum Abendmahl, das heute von allen Christen weltweit gefeiert wird als Zeichen der gegenseitigen Verbindung als Schwestern und Brüder und als Zeichen der Erkenntnis und der Vergebung dessen, was voneinander und von Gott trennen will – wo wir schuldig geworden sind und andere uns etwas schuldig geblieben sind.

 

Die Darstellung im Fresko ist sehr lebendig und vielfältig. Wir begegnen den zwölf Jüngern mit Jesus souverän und aufrecht in der Mitte. Er ist es, der sie zum Weg der Nachfolge berufen hat und dem sie drei Jahre gefolgt sind. Es sind sehr verschiedene Männer, jüngere und ältere, mit verschiedenem Berufs- und Bildungshintergrund und unterschiedlichen Charakteren. Es ist eine Gemeinschaft der Vielfalt, was auch Konflikte bedeutet. Man kann sich den Bruder nicht selbst aussuchen. Er gehört zu uns, auch wenn wir ihn manchmal am liebsten ausschliessen möchten. Es hilft das Bewusstsein: Auch ich  bin manchmal anderen eine Zumutung.

 

Der Tisch ist reich gedeckt: Brot, Fische und ein kleines ganzes Lamm, das geteilt wird. Es ist das, was auch zu einem festlichen Tisch damals in Bergün gehört hat – den Fisch aus dem Fluss, das Lamm von der Weide. Und den Wein. Das Messer hilft beim Teilen.

 

Jesus hält gerade das Brot in den Händen und spricht den Segen, bevor er es mit den anderen teilt. Wem gibt er es im Bild gerade? Es ist der noch junge Jünger mit den langen Haaren und dem kräftigen schwarzen Bart. Er hält einen Beutel in den Händen. Was ist es denn, was er nicht loslassen will?

 

Es ist Judas, der Jesus an die religiöse Elite verraten wird, die schon längst den Tod Jesu beschlossen hat -  für dreissig Silberlinge verkauft Judas seinen Tipp, wo sein Herr sich befindet. Das grosse Thema in seinem Leben, von dem er nicht lassen kann, ist das Geld. Er war Verwalter der Kasse der Jünger – und Jesu wusste, auch wenn er sie nie offen aussprach, von dessen Korruption, dass er für sich Geld wegnahm.

 

Der andere, weit auffälligere Jünger ist Johannes, der wie ein Kind glücklich geborgen mit gekreuzten Armen und verklärtem Gesicht vor Jesu liegt und dessen Arme mit seiner Wärme und Liebe spürt.

 

Johannes zeigt offen seine Liebesbedürftigkeit und seine Liebe zu Jesus. Jesus tut ihm gut und verleiht ihm die nötige Geborgenheit. Es ist ein Bild des Glaubens: Sich lieben lassen und lieben. Johannes ist der «Mystiker» unter den Jüngern Jesu, in der Tradition auch der Evangelist, dessen Evangelium die Liebe im Zentrum hat.

  

Diese ganze Szene ist unerhört eindrücklich in seiner Thematik: die menschliche Gemeinschaft mit seiner Schönheit und seinen Konflikten. Christus als der, der verbindet und einlädt, sich gegenseitig anzunehmen und einander zu vergeben. Die Liebe ist das Wichtigste. Aber auch der Verrat werden uns gezeigt, die Schwäche des Menschen – die grossen Versuchungen. Bis heute ist dies oft das Geld.

Was folgt, ist die Verhaftung Jesu mitten in der Nacht im Garten Getsemaneh mit seinen uralten Olivenbäumen. Kurz zuvor erlebt Jesu die zweite grosse Krise seines Lebens (die erste war seine dreifache Versuchung durch den Satan in der Wüste in der Zeit seiner Rückzugs in die Einsamkeit nach seiner Taufe).

 

Jesus zieht sich von der Jüngergruppe weg zurück zum einsamen Gebet und ringt mit seinem Gott. Er weiss, was ihm bevorsteht, und bittet dennoch, dass ihm das Leiden erspart wird. Eigentlich vertraut er, dass seine Jüngern ihn im Gebet unterstützen, doch er findet sie schlafend. Jesus erlebt dabei einen enormen Ausbruch existentieller Angst. Erst zuletzt ringt er sich durch und akzeptiert Gottes Willen: «Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.» Es ist ein übermenschlicher Akt, den er nur mit Hilfe Gottes vollziehen kann.

 

Diese Geschichte macht Jesus wahrhaftig menschlich. Er steht zu seinen Ängsten. Er ist keine Kunstfigur, die alles gelassen hinnimmt. Das steht  jenseits von allem, was in anderen Religionen berichtet wird. Kann es sein, dass Gott sich so nahe bei den Menschen gibt? Oder ist erst ein solcher Gott für uns Menschen annehmbar, der selbst leidet und somit das Leiden der Menschen versteht?

 

Am Beginn der Verhaftung steht der berühmte «Judaskuss»: «Mit einem Kuss verrätst du deinen Herrn?» Der Kuss wird als Verrat inszeniert – welche Verkehrung der Liebe. Verrat gehört auch zu den grossen Themen der Menschheit. Sogar der Verrat am eigenen Freund. Es ist wohl das bitterste Erfahrung im Leben.

 

Die jungen Soldaten sind nun bereit zur Verhaftung und zu allem, was in der Folge dazu gehört. Es ist Zeit für «ihr Geschäft». 

Verspottung und Folterung Jesu

 

Bald danach begegnen uns die Soldaten wieder – beim Foltern, und mit ihnen Schaulustige, die Jesus verspotten. Folterung gehörte damals zum normalen Ablauf einer Befragung und eines Prozesses. Folter sollte das Schuldeingeständnis fördern. Das Thema wird in Bergün ausserordentlich breit in zwei Fresken entfaltet. Es muss die Maler besonders bewegt haben und entspricht damit dem biblischen Bericht, der von mehreren Szenen erzählt – vor Pilatus und vor Herodes, und zuletzt, während Jesus am Kreuz hängt. Die Gaffer waren zahlreich anwesend. Und das Volk, aufgehetzt von den Feinden Jesu, der religiösen Elite, antwortet auf die Frage von Pilatus, ob nicht ein Verbrecher ans seiner Stelle gekreuzigt werden sollte: «Kreuzige ihn!»

 

Heute ist im Kriegsrecht und in der Justiz Folterung und menschliche Entwürdigung verboten - und es geschieht dennoch. Erschütternd sind etwa die Berichte über Folterungen russischer Soldaten in der Ukraine, über Vergewaltigungen und Schändungen der Zivilbevölkerung in Butscha und Irpin. Sie werden aber in der Hoffnung auf einen späteren Kriegsprozess sorgfältig erfasst.

  

Eine Szene fehlt noch, wohl die Verurteilung Jesu. Ich werde sie demnächst bei einem Besuch in Bergün ergänzen.

Die Kreuzigung und Auferstehung

 

Nun hängt Jesus am Kreuz. Einsam stirbt er den Verbrechertod. Als letzte Worte Jesu überliefert uns Johannes: «Es ist vollbracht.» Was denn ist vollbracht? Hat Jesu überraschend rasch den Tod überstanden? War der Tod eine gnädige Erlösung? Oder haben diese Worte noch eine tiefere Bedeutung? Für Johannes ist es klar. Der Tod Jesu war mehr. Allerdings wird es ihm erst später bewusst, als er sich zu erinnern beginnt, wie Jesus mehrfach über seinen Tod gesprochen hat und überzeugt war, dass es sein Weg sein wird. Somit steht hinter dem menschlich ungerechten und unsinnigen Tod doch ein Sinn. Den Hinweis dazu finden wir links vom Bild dargestellt: «Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt». Dahinter steckt die im Alten Testament vorhandene Vorstellung eines Sündenbock, der zur Sühnung für erkannte und unerkannte Schuld der Menschen in die Wüste geschickt wird. Wir kennen die Vorstellung eines «Sündenbockes», der für andere dazu gemacht wird: Ein Sündenbock muss her, gerade dann, wenn sich ein Geschehen nicht verstehen lässt. Diese Vorstellung wurde im Laufe der Kirchengeschichte für Antisemitismus benutzt – die Juden als vermeintliche Brunnenvergifter nach dem Einfall der Pest. Und die Rede davon, dass die Juden waren, die Christus umgebracht haben.

 

Es handelt sich um einen massiven Missbrauch biblischer Botschaft, der unzähligen Juden durch Pogrome und den «Holocaust» von Hitlers dämonischen Plan einer «Eindlösung der Judenfrage». Auch heute lebt dieser Antisemitismus, obwohl er nicht mehr vermeintlich theologisch begründet wird.

 

Es ist biblisch völlig unangebracht, die Kreuzigung Jesu als jüdisches Machwerk zu interpretieren. Die alttestamentliche Überlieferung spricht mehrfach vom «Knecht Gottes», der für die Schuld des Volkes schandvoll umgebracht wird. Wer dieser «Knecht» ist, bleibt in diesen prophetischen Texten offen. die ersten Christen erinnerten sich an diese Prophezeiungen und interpretierten sie auf den Tod Jesu, da sie teilweise wortwörtlich sich erfüllten. Zudem geht nicht darum, dass Juden es waren, die Jesus beseitigen haben. Es geht um die gesamte Menschheit, die den wahren Messias nicht erträgt. Würde Jesus heute leben, würde er ebenso beseitigt werden. Sein Auftreten ist eine menschliche Provokation für jeden vermeintlich unangefochtenen Machthaber.

 

Die Szene auf dem Fresko ist still. Sie zeigt, was nach dem Tod geschah, nachdem die zahlreichen Zuschauer sich zurückgezogen hatten. Zurück blieben nur noch die Nächsten: Maria, die Mutter Jesu, eine andere Maria, eine Jüngerin von Jesu, und der Jünger Johannes. Sie alle hatten das grausame Spiel bis zum bitteren Ende ertragen, Beistand gegeben. Unsäglich, die Gefühle in ihnen: Ohnmacht, Hilflosigkeit, Leere. Später vielleicht auch Wut.

 

Was nun einzig bleibt, ist die Sorge für eine gute Bestattung. Jesus wird vom Kreuz genommen, in Tücher gelegt und liebevoll mit wohlriechenden Ölen gesalbt. Ein Vertreter der frommen Elite, Nikodemus, der nicht mit dem Ratsbeschluss, Jesus zu kreuzigen einverstanden war, tut nun, was er kann. Er stellt ein vornehmes Felsengrab zur Verfügung, das er sich für seinen Tod gekauft hat.

 

Die Vorstellungen über einen würdigen Abschied und die Art der Bestattung sind heute vielfältig geworden. Was ist es, was wir uns selbst wünschen? Wer, wie und wo soll von uns Abschied genommen werden? Was ist unser geistiges und irdisches Vermächtnis, das wir hinterlassen? Was möchten wir den Menschen sagen, die von uns Abschied nehmen werden? Was regeln wir oder lassen wir bewusst offen, weil wir darauf vertrauen, dass es die Angehörigen für uns richtig machen?

 

Das letzte Fresko in dieser Reihe zeigt, was schon damals niemand erwartet hat: Die Auferstehung Jesu. Sie entzieht sich jedem Versuch eines Beweises, da sie jenseits aller menschlichen Möglichkeiten geschieht. Gibt es Dinge, die tatsächlich geschehe und für die es keine plausible Erklärungen gibt? Exitieren Wunder? Oder ist im menschlichen Leben alles fest fixiert und unabänderlich?

 

Was geschieht überhaupt nach dem Tod? Ist er das definitive Ende? Oder stimmen wir dem Zeugnis aller Religionen zu, dass es ein Weiterleben gibt? Die Vorstellungen sind jeweils unterschiedlich. Der christliche Glaube ist davon überzeugt, dass Christus als erster von den Toten auferstanden ist und wir es auch tun werden. Und sie kennt die Vorstellung eines «letzten Gerichtes», in dem Gott Gerechtigkeit schafft – auch denen gegenüber, die sich der menschlichen Gerechtigkeit entziehen konnten. Die Bibel kennt Vorstellungen über das Leben nach dem Tod, formuliert sie allerdings nur wage. Wir müssen nicht alles näher wissen. Wir werden es dann erfahren.

  

Und sie kennt die Vorstellung eines gnädigen, barmherzigen Gottes. Wer könnte von sich behaupten, dass er schuldlos sein Leben bewältigt hat? Und wer kann sich anmassen, dass er besser als andere wäre?

 

Bild: Von Xenos - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

 

Die zwölf Apostel mit Jesus in der Mitte

 

Wie geht es weiter nach der Auferstehung? Jesus gibt seinen Jüngern den Auftrag: «Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.» (Matthäus 28,18-20)

 

Die Botschaft Christi gilt nicht exklusiv für einige wenige. Sie ist für alle offen. In der Folge der Auferstehung kam es in kurzer Zeit zu einer Bewegung im Nahen und Mittleren Osten und rund um das Mittelmeer. Zahlreiche kleine Gemeinschaften entstanden, die sich in Privathäusern trafen. Attraktiv war sie, weil damit alle gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau, Sklave und Frei, Jude oder Nichtjude entfielen. Jeder bekam eine Würde.

 

Die Bewegung ist heute längst global und die Mehrheit der Christen lebt im globalen Süden. Jede Bewegung steht aber  der Gefahr der Erstarrung einer nur noch organisierten Religion – und braucht deshalb immer wieder neue Impulse durch Gottes Geist und damit ständige Erneuerung im Sinne ihres Ursprungs. Nur so bleibt sie lebendig.

 

Im Fresko sind die zwölf Apostel gemeinsam mit Christus zu sehen. Einer davon, Judas, fiel weg, und wurde nach gemeinsamen Gebet durch Beschluss der Urgemeinde ersetzt – ein Zeichen eines frühen christlichen Demokratieverständnisses. Die Zahl Zwölf ist zudem eine Symbolzahl: Sie steht für die alle umfassende Anzahl der Völker dieser Welt.

domenic janett, Stugl/STuls Klarinette und Rudolf Lutz, St. Gallen Orgel Konzert Kirche Bergün 2019

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Sommerkonzert Kirche Bergün 2019
Abendkonzert Bergün Sommer 2019 Dominic
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