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Die Strategie der Hamas

Hinter dem blutigen Schachzug der Hamas steht, einen "permanenten" Kriegszustand zu schaffen

 

Die „New York Times“ konnte Mitglieder der obersten Führung der Hamas in Qatar interviewen. Der Bericht zeigt die äusserst gewaltbereite Ideologie der Hamas, die ihrer Charta entspricht, und für ihre Ziele auch bereit ist, die eigene Zivilbevölkerung zu opfern. Die Hervorhebungen sind vom Verfasser dieses Blog.

 

Die Strategie, weltweite Proteste für die Palästinenser zu bewirken, ging tatsächlich auf. Die israelische Strategie, die Hamas in Grenzen zu halten und einen eigenen gefangenen Soldaten durch den Tausch von 1000 palästinensischen freizubekommen, löste dagegen erst recht den Willen aus, Israel weiter zu provozieren. Hamas ist nicht ein besseres Leben der Menschen in Gaza das Ziel, sondern die völlige Vernichtung Israels. Zwischendurch scheint dies nur so, als würde die Hamas das eigentliche Ziel nicht mehr verfolgen. Im zweiten Teil des Beitrages finden Sie den Beitrag Antisemitismus und Antizionismus in der ersten und zweiten Charta der Hamas der deutschen Bundesstelle für politische Bildung, der die Ziele von Hamas aufzeigt. 

 

 

 

Originalartikel vom 8. Oktober 2023: https://www.nytimes.com/2023/10/08/world/middleeast/hamas-military-gaza-explained.html

 

 

Zum besseren Lesen und Ausdrucken finden Sie in PDF am Ende.

 

Die Hamas-Führer sagen, sie hätten ihren Angriff auf Israel am 7. Oktober durchgeführt, weil sie glaubten, dass die palästinensische Sache ins Wanken geraten sei und nur Gewalt sie wiederbeleben könne.

 

Tausende wurden in Gaza getötet und ganze Familien ausgelöscht. Israelische Luftangriffe haben palästinensische Stadtteile in Schutt und Asche verwandelt, während Ärzte schreiende Kinder in abgedunkelten Krankenhäusern ohne Narkose behandeln. Im ganzen Nahen Osten geht die Angst um, dass ein größerer regionaler Krieg ausbrechen könnte.

 

Doch in der blutigen Arithmetik der Hamas-Führer ist das Gemetzel nicht das bedauerliche Ergebnis einer großen Fehlkalkulation. Ganz im Gegenteil, sagen sie: Es ist der notwendige Preis für eine große Errungenschaft - die Erschütterung des Status quo und die Eröffnung eines neuen, brisanteren Kapitels in ihrem Kampf gegen Israel.

 

Es war notwendig, "die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Zusammenstoß zu haben", sagte Khalil al-Hayya, ein Mitglied des obersten Führungsgremiums der Hamas, gegenüber der New York Times in Doha, Katar. "Wir haben es geschafft, die palästinensische Frage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt gibt es in der Region keine Ruhe mehr.

 

Seit dem schockierenden Angriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem nach israelischen Angaben etwa 1.400 Menschen getötet wurden - die meisten von ihnen Zivilisten - und mehr als 240 weitere als Gefangene nach Gaza verschleppt wurden, haben die Anführer der Gruppe die Operation gelobt, wobei einige hoffen, dass sie einen anhaltenden Konflikt auslöst, der jeden Anschein von Koexistenz zwischen Israel, Gaza und den umliegenden Ländern beendet.

 

In wochenlangen Interviews sagten Hamas-Führer sowie arabische, israelische und westliche Beamte, die die Gruppe verfolgen, dass der Angriff von einem engen Kreis von Kommandeuren im Gazastreifen geplant und ausgeführt wurde, die die Details weder ihren eigenen politischen Vertretern im Ausland noch ihren regionalen Verbündeten wie der Hisbollah mitteilten, so dass die Menschen außerhalb der Enklave von der Heftigkeit, dem Ausmaß und der Reichweite des Angriffs überrascht wurden.

 

Der Angriff war umfangreicher und tödlicher, als selbst die Planer erwartet hatten. Das lag vor allem daran, dass es den Angreifern gelang, Israels hochgerüstete Verteidigungsanlagen mit Leichtigkeit zu durchbrechen, so dass sie Militärbasen und Wohngebiete mit wenig Widerstand überrennen konnten. Als die Hamas durch den Süden Israels stürmte, tötete und nahm sie mehr Soldaten und Zivilisten gefangen, als sie erwartet hatte, so die Beamten.

 

Der Angriff war so verheerend, dass er einem der Hauptziele der Verschwörer diente: Er löste eine seit langem bestehende Spannung innerhalb der Hamas über die Identität und den Zweck der Gruppe. War sie in erster Linie eine Regierungsorganisation, die das tägliche Leben im blockierten Gazastreifen regelte, oder war sie im Grunde immer noch eine bewaffnete Kraft, die sich unerbittlich dafür einsetzte, Israel zu zerstören und durch einen islamistischen palästinensischen Staat zu ersetzen?

 

Mit dem Angriff beantworteten die Anführer der Gruppe in Gaza - darunter Yahya Sinwar, der mehr als 20 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hatte, und Mohammed Deif, ein zwielichtiger Militärkommandant, den Israel wiederholt versucht hatte zu ermorden - diese Frage. Sie setzten auf eine militärische Konfrontation.

 

In den folgenden Wochen kam es zu einem wütenden israelischen Gegenschlag, der nach Angaben des israelischen Gesundheitswesens mehr als 10.000 Menschen im Gazastreifen getötet hat. Doch für die Hamas war der Angriff Ausdruck des wachsenden Gefühls, dass die palästinensische Sache ins Abseits gedrängt wird und nur drastische Maßnahmen sie wiederbeleben können.

 

Oberflächlich betrachtet schien es in den Monaten vor dem brutalen Angriff relativ ruhig in Gaza zu sein. Die Hamas hatte die jüngsten Zusammenstöße zwischen Israel und anderen Kämpfern ausgesessen, und die politischen Führer der Gruppe waren tausend Meilen entfernt in Katar, um über mehr Hilfe und Arbeitsplätze für die Bewohner des verarmten Gebiets zu verhandeln.

 

Doch die Frustration wuchs. Die Hamas-Führer in Gaza wurden mit Bildern von israelischen Siedlern überschwemmt, die Palästinenser im Westjordanland angriffen, von Juden, die offen an einem umstrittenen Ort beteten, der normalerweise Muslimen vorbehalten ist, und von der israelischen Polizei, die die Aqsa-Moschee in Jerusalem stürmte, einen Prüfstein für die palästinensischen Ansprüche auf die heilige Stadt. Die Aussicht auf eine Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi-Arabien, das die palästinensische Sache seit langem mit viel Geld unterstützt, schien näher denn je.

 

Dann, an einem ruhigen Samstagmorgen, griff die Hamas an.

 

Es war von vornherein klar, dass Israel mit der Bombardierung des Gazastreifens reagieren und palästinensische Zivilisten töten würde.

 

"Es war klar, dass die Reaktion auf diese große Tat groß sein würde", sagte al-Hayya.

 

Aber er fügte hinzu: "Wir mussten den Menschen sagen, dass die palästinensische Sache nicht sterben wird.

 

Einige israelische Beamte bedauern heute zutiefst, dass sie Herrn Sinwar und seine Absichten so gründlich falsch eingeschätzt haben. Dies war einer von vielen Sicherheitsfehlern, die es der Hamas ermöglichten, den Grenzzaun zu durchbrechen und stundenlang weitgehend ungehindert zu wüten.

 

"Ich werde die Last dieses Fehlers für den Rest meines Lebens tragen", sagte ein israelischer Beamter.

 

Ein neuer Anführer in Gaza

Sinwar übernahm 2017 das Ruder der Hamas in Gaza. Er stammt aus der ersten Generation der Hamas, einer bewaffneten Gruppe, die während der ersten palästinensischen Intifada (Aufstand) in den späten 1980er Jahren gegründet und schließlich von den USA und vielen anderen Ländern als terroristische Organisation eingestuft wurde.

 

Sinwar half bei der Gründung der Qassam-Brigaden, dem bewaffneten Flügel der Hamas, der dafür berüchtigt ist, Selbstmordattentäter in israelische Städte zu schicken und Raketen aus dem Gazastreifen auf israelische Städte abzuschießen. Außerdem überwachte er die Hamas auf mutmaßliche Spione, die von Israel rekrutiert worden waren, und erwarb sich dabei den Ruf, so brutal gegen sie vorzugehen, dass er den Spitznamen "der Schlächter von Khan Younis" erhielt, der aus seiner Geburtsstadt im Gazastreifen stammt.

 

1988 wurde er festgenommen und später für die Tötung von vier Palästinensern, die der Kollaboration mit Israel verdächtigt wurden, angeklagt, wie aus israelischen Gerichtsakten hervorgeht. Er landete für mehr als zwei Jahrzehnte in einem israelischen Gefängnis, eine Erfahrung, die er als lehrreich bezeichnet.

 

"Sie wollten, dass das Gefängnis ein Grab für uns ist. Eine Mühle, die unseren Willen, unsere Entschlossenheit und unseren Körper zermahlt", sagte er 2011. "Aber Gott sei Dank haben wir mit unserem Glauben an unsere Sache das Gefängnis in ein Heiligtum der Anbetung und eine Akademie zum Lernen verwandelt."

 

Ein großer Teil dieser Bildung bestand darin, seinen Feind zu studieren.

 

Er lernte Hebräisch, was ihm ein tieferes Verständnis der israelischen Gesellschaft vermittelte, und er entwickelte ein Engagement für die Befreiung der tausenden palästinensischen Gefangenen in Israel. Israel hat viele von ihnen wegen Gewaltverbrechen verurteilt; die Palästinenser/innen sind weithin der Meinung, dass sie zu Unrecht festgehalten werden.

 

Im Jahr 2011 wurde Sinwar im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen, der für die Hamas eine wichtige Lektion war: Israel war bereit, einen hohen Preis für seine Gefangenen zu zahlen.

 

Die Hamas tauschte einen einzigen israelischen Soldaten, Gilad Shalit, gegen mehr als 1.000 Palästinenser ein, darunter auch Herrn Sinwar, einen Gefängnisleiter, der an den Verhandlungen beteiligt gewesen war. Seine Freilassung war ein großer Preis für die Hamas, und er schwor, weitere Gefangene freizulassen.

 

"Für mich ist das eine moralische Verpflichtung", sagte er in einem Interview 2018. "Ich werde mehr als mein Bestes geben, um diejenigen zu befreien, die noch im Gefängnis sitzen.

 

Als Herr Sinwar 2011 nach Gaza zurückkehrte, war die palästinensische Bewegung tief gespalten.

 

 

Einige Fraktionen hatten Abkommen mit Israel unterzeichnet, die den Weg für eine Zwei-Staaten-Lösung ebnen sollten. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die als palästinensische Regierung in Wartestellung vorgesehen war, hatte nur begrenzte Befugnisse über Teile des Westjordanlandes und blieb offiziell verpflichtet, über ein Ende des Konflikts zu verhandeln.

 

Die Hamas versucht, die Geschichte ungeschehen zu machen, angefangen im Jahr 1948, als mehr als 700.000 Palästinenserinnen und Palästinenser während des Krieges um die Gründung des jüdischen Staates aus ihren Häusern im späteren Israel flohen oder vertrieben wurden.

 

Für die Hamas war diese Vertreibung zusammen mit der israelischen Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens während des Nahostkriegs 1967 ein großes historisches Unrecht, das mit Waffengewalt wiedergutgemacht werden musste. Die Hamas lehnte Friedensgespräche mit Israel als Verrat ab und betrachtete sie als Kapitulation vor Israels Kontrolle über das Land, das die Gruppe als besetztes palästinensisches Land ansah.

 

Die politische Spaltung der Palästinenser wurde 2007 zu einer geografischen Tatsache, als die Hamas die Kämpfe in Gaza gewann und die Kontrolle über das Gebiet übernahm. Plötzlich kämpfte sie nicht nur gegen Israel, sondern regierte auch den Gazastreifen. Israel verhängte gemeinsam mit Ägypten eine Blockade über den Streifen, um die Hamas zu schwächen, und stürzte die Menschen im Gazastreifen in eine immer tiefere Isolation und Armut.

 

Als Sinwar nach Gaza zurückkehrte, war die Hamas bereits als De-facto-Regierung etabliert und hatte sich in einem "gewaltsamen Gleichgewicht" mit Israel eingerichtet, wie Tareq Baconi, ein Hamas-Experte, es nennt. Die tiefe Feindseligkeit entlud sich häufig in einem tödlichen Austausch von Hamas-Raketen und israelischen Luftangriffen. Der größte Teil der Handelsgüter und der Elektrizität des Gazastreifens kam jedoch aus Israel, und die Hamas bemühte sich bei den Waffenstillstandsgesprächen häufig um eine Lockerung der Blockade.

 

Die Hamas-Führer standen der neuen Rolle der Gruppe als Regierung zwiespältig gegenüber. Einige glaubten, sie müssten das Leben der Menschen im Gazastreifen verbessern, während andere die Regierungstätigkeit als Ablenkung von ihrer ursprünglichen, militärischen Aufgabe betrachteten, sagen Experten. Die Hamas verhöhnte die Palästinensische Autonomiebehörde für ihre Zusammenarbeit mit Israel, einschließlich des Einsatzes der palästinensischen Polizei, um Angriffe auf Israel zu verhindern. Einige Hamas-Führer befürchteten, dass ihre eigene Gruppe bei den Verhandlungen mit Israel über Fragen des täglichen Lebens in geringerem Maße den gleichen Weg beschreitet.

 

Im Jahr 2012 wurde Sinwar zum Vertreter des bewaffneten Flügels bei der politischen Führung der Hamas ernannt, was ihn enger mit den Führern des militärischen Flügels verband, darunter auch mit Deif, dem geheimnisvollen Chef der Qassam-Brigaden. Nach Angaben arabischer und israelischer Behörden waren die beiden Männer die Hauptverantwortlichen für den Anschlag vom 7. Oktober.

 

Als Sinwar 2017 die Führung der Hamas im Gazastreifen übernahm, zeigte er sich manchmal an einer Annäherung an Israel interessiert. Im Jahr 2018 gab er einem italienischen Journalisten, der für eine israelische Zeitung arbeitet, ein seltenes Interview und rief zu einem Waffenstillstand auf, um das Leid in Gaza zu lindern.

"Ich sage nicht, dass ich nicht mehr kämpfen werde", sagte er. "Ich sage nur, dass ich keinen Krieg mehr will. Ich will das Ende der Belagerung. Wenn du bei Sonnenuntergang an den Strand gehst, siehst du all diese Teenager am Ufer, die sich unterhalten und sich fragen, wie die Welt jenseits des Meeres aussieht. Wie das Leben aussieht", fügte er hinzu. "Ich will, dass sie frei sind."

 

Die Hamas hat 2017 auch ein politisches Programm veröffentlicht, das die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung vorsieht, ohne jedoch das Existenzrecht Israels anzuerkennen.

 

Israel gewährte einige Zugeständnisse und stimmte 2018 zu, Hilfsgüter aus Katar im Wert von 30 Millionen US-Dollar pro Monat nach Gaza zu liefern und die Zahl der Genehmigungen für Gazanerinnen und Gazaner, in Israel zu arbeiten, zu erhöhen, was dringend benötigtes Geld in die Wirtschaft des Gazastreifens brachte.

 

Die Gewalt brach weiter aus. Im Jahr 2021 begann die Hamas einen Krieg, um gegen die israelischen Bemühungen zu protestieren, Palästinenser/innen aus ihren Häusern in Ostjerusalem zu vertreiben, und gegen die Razzien der israelischen Polizei in der Aqsa-Moschee in der Altstadt von Jerusalem.

 

Das war ein Wendepunkt, sagte Osama Hamdan, ein Hamas-Führer mit Sitz in Beirut, Libanon, der Times. Anstatt Raketen auf den Gazastreifen abzufeuern, kämpfte die Hamas nun für zentrale Anliegen aller Palästinenser, auch außerhalb der Enklave. Die Ereignisse haben viele in der Hamas auch davon überzeugt, dass Israel den Konflikt über einen Punkt ohne Wiederkehr hinausschieben wollte, der die Unmöglichkeit einer palästinensischen Staatlichkeit sicherstellen würde.

 

"Den Israelis ging es nur um eines: Wie werde ich die palästinensische Sache los?" sagte Herr Hamdan. "Sie haben sich in diese Richtung bewegt und nicht einmal an die Palästinenser gedacht. Und wenn sich die Palästinenser nicht gewehrt hätten, wäre das alles möglich gewesen.

 

Fähigkeiten aufbauen

Dennoch gingen der israelische Militärgeheimdienst und der Nationale Sicherheitsrat im Jahr 2021 davon aus, dass die Hamas einen weiteren Krieg vermeiden wollte, so Personen, die mit diesen Einschätzungen vertraut sind.

 

Auch die Hamas untermauerte den Eindruck, dass sie das Regieren dem Kämpfen vorzieht. Zweimal verzichtete die Gruppe darauf, sich an Zusammenstößen mit Israel zu beteiligen, die vom Palästinensischen Islamischen Dschihad, einer kleineren Miliz in Gaza, begonnen wurden. Laut Diplomaten, die an den Gesprächen beteiligt waren, versuchten die politischen Führer der Hamas über Vermittler in Katar, die Hilfslieferungen nach Gaza zu erhöhen und die Zahl der Arbeiter, die nach Israel gehen, zu steigern.

 

Viele im israelischen Sicherheitsapparat waren außerdem der Meinung, dass die komplexe Grenzverteidigung zum Abschuss von Raketen und zur Verhinderung von Infiltrationen aus dem Gazastreifen ausreicht, um die Hamas in Schach zu halten.

 

Doch innerhalb des Gazastreifens wuchsen die Fähigkeiten der Hamas.

 

Am 7. Oktober verfügte die Hamas nach Schätzungen amerikanischer und anderer westlicher Analysten über 20.000 bis 40.000 Kämpfer und etwa 15.000 Raketen, die größtenteils in Gaza hergestellt wurden und deren Komponenten wahrscheinlich über Ägypten eingeschmuggelt wurden. Die Gruppe verfüge auch über Mörser, Panzerabwehrraketen und tragbare Luftabwehrsysteme, sagten sie.

 

Sinwar hatte auch die Beziehungen der Gruppe zu ihrem langjährigen Unterstützer, dem Iran, wiederhergestellt, die 2012, als die Hamas ihr Büro in Syrien, einem engen Verbündeten des Irans, während des syrischen Bürgerkriegs schloss, ausgefranst waren.

 

Die Wiederherstellung der Beziehungen zwischen dem militärischen Flügel der Hamas im Gazastreifen und der sogenannten Achse des Widerstands, dem iranischen Netzwerk regionaler Milizen, hat sich nach Angaben von Diplomaten und Sicherheitsbeamten aus der Region vertieft. In den letzten Jahren reisten immer mehr Hamas-Aktivisten aus dem Gazastreifen in den Iran und den Libanon, um sich von den Iranern oder der Hisbollah ausbilden zu lassen, was die Fähigkeiten der Hamas weiter verbesserte, so die Beamten.

 

Diese Ausbildung bedeute jedoch nicht, dass der Iran oder die anderen regionalen Verbündeten der Hamas wüssten, wie oder wann diese Fähigkeiten eingesetzt werden könnten, sagten die Beamten.

 

Trotz der verdeckten Vorbereitungen der Hamas hatte die Gruppe selbst für einige der effektivsten Waffen geworben, die sie am 7. Oktober einsetzte. Nach Beginn des Angriffs veröffentlichte die Gruppe Trainingsaufnahmen, die ihre Kämpfer lange vor dem Angriff beim Gleitschirmfliegen im Gazastreifen zeigten - eine Aktivität, die für Israel leicht zu erkennen war - sowie Aufnahmen von Hamas-Kämpfern, die in einer nachgebauten israelischen Stadt im Gazastreifen Geiseln nehmen.

 

Im Mai 2021 veröffentlichte die Hamas drei Erklärungen über ihre neuen Drohnen. Eine davon enthielt ein Video von maskierten Kämpfern, die gelenkte Kamikaze-Drohnen abschießen. Eine andere enthielt Luftüberwachungsaufnahmen von Kommunikationstürmen im Inneren israelischer und israelischer Panzer.

 

In einem Artikel auf der arabischen Website des militärischen Flügels hieß es: "Die Flugzeuge des Feindes beherrschen nicht mehr den Himmel über Palästina."

 

Am 7. Oktober nutzte die Hamas Gleitschirmflieger, um den Grenzzaun zu überfliegen, und explodierende Drohnen, um die israelische Grenzsicherungsarchitektur auszuschalten. Die Bewaffneten, die dann israelische Stützpunkte und Gemeinden stürmten, trugen Karten bei sich, die wahrscheinlich zum Teil von Arbeitern aus dem Gazastreifen erstellt wurden, die die Hamas als Spione rekrutiert hatte, so ein regionaler Sicherheitsbeamter.

 

Einer der größten Fehler, den Israel nach Ansicht arabischer und israelischer Beamter gemacht hat, war, dass es nicht verstanden hat, wie die Hamas relativ einfache Mittel zu einem ausgeklügelten, mehrgleisigen Angriff kombinieren konnte, der eine viel größere und stärkere Armee ausmanövrierte.

 

Motivation zum Angriff

Während der Aufbau der Fähigkeiten für den Angriff Jahre dauerte, war die Entscheidung, ihn am 7. Oktober zu starten, ein streng gehütetes Geheimnis einiger weniger Hamas-Führer im Gazastreifen, die die Teilnehmer erst in letzter Minute informierten, um zu verhindern, dass der regionale Geheimdienst sie abfing, so Hamas- und regionale Beamte.

 

Ein Hauptziel war es, so viele israelische Soldaten wie möglich gefangen zu nehmen, um sie im Rahmen eines Gefangenenaustauschs einzusetzen, so zwei arabische Beamte, deren Regierungen mit der Hamas sprechen.

 

Ein regionaler Sicherheitsbeamter sagte, die Hamas habe damit gerechnet, dass sich nach Beginn des Angriffs Palästinenser in anderen Teilen der Welt gegen Israel erheben würden, dass andere arabische Bevölkerungen gegen ihre Regierungen aufbegehren würden und dass die regionalen Verbündeten der Gruppe, darunter die Hisbollah, sich dem Kampf anschließen würden.

 

Mindestens vier Geheimdienste - zwei arabische und zwei europäische - sind jedoch der Meinung, dass die Hisbollah nichts von dem Angriff wusste, wie Beamte mit Zugang zu Geheimdienstberichten berichten.

 

Auch die politische Führung der Hamas außerhalb des Gazastreifens wurde von dem Angriff überrascht, wie mehrere arabische und westliche Beamte berichten, die ihre Aktivitäten verfolgen.

 

Einige dieser Führungspersönlichkeiten tun sich nun schwer damit, zu erklären, wie das massenhafte Töten von Zivilisten durch politische Ziele gerechtfertigt werden kann.

 

In Interviews versuchten Hamas-Vertreter, die Gruppe von den Gräueltaten vom 7. Oktober zu distanzieren, und bestritten wiederholt, dass ihre Kämpfer absichtlich Zivilisten angegriffen hätten, obwohl es dafür zahlreiche Beweise gab.

 

Stattdessen argumentierten Hamas-Vertreter, dass einige Zivilisten während der Kämpfe mit den israelischen Sicherheitskräften im Kreuzfeuer getötet worden sein könnten und dass, nachdem der Sperrzaun um den Gazastreifen durchbrochen worden war, wütende Gazaner und Mitglieder anderer bewaffneter Gruppen aus eigenem Antrieb nach Israel eindrangen und israelische Zivilisten töteten und entführten.

 

Umfangreiche Zeugenaussagen und dokumentarische Beweise - darunter Videoaufnahmen von israelischen Sicherheits- und Armaturenbrettkameras sowie von den Helmkameras toter Hamas-Schützen - zeigen, dass sich Angreifer mit Hamas-Abzeichen schon in den ersten Stunden des Angriffs durch israelische Gemeinden bewegten und Zivilisten bei Sichtkontakt erschossen.

 

Dennoch lobte die Hamas-Führung den Angriff und erklärte, er sei notwendig gewesen, um den bewaffneten Kampf gegen Israel neu zu beleben.

 

"Das Ziel der Hamas ist es nicht, den Gazastreifen zu regieren und ihn mit Wasser und Strom zu versorgen", sagte Herr al-Hayya, Mitglied des Politbüros. "Die Hamas, die Qassam und der Widerstand haben die Welt aus ihrem Tiefschlaf geweckt und gezeigt, dass dieses Thema auf dem Tisch bleiben muss."

 

 

"Dieser Kampf fand nicht statt, weil wir Treibstoff oder Arbeiter wollten", fügte er hinzu. "Es ging nicht darum, die Situation in Gaza zu verbessern. Mit diesem Kampf wollen wir die Situation komplett umstürzen."

Antisemitismus und Antizionismus in der ersten und zweiten Charta der HamasEine Fallstudie zur Judenfeindschaft im islamistischen Diskurs

 

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber

08.11.2023 / 10 Minuten zu lesen

 

Die Feindschaft gegen Juden prägt auch zahlreiche islamistische Diskurse. Die Charta der Hamas fordert einen Palästinenserstaat – und ruft zur Erreichung dieses Ziels ganz offen zur Tötung von Juden auf.

 

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Einleitung und Fragestellung

Die Feindschaft gegenüber den Juden und der Zerstörungswille gegenüber Israel prägen zahlreiche islamistische Diskurse. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen. Neu hingegen ist die kritische Aufmerksamkeit in der westlichen Öffentlichkeit für solche Positionen. Anhand der programmatischen Charta der "Hamas" soll aufgezeigt und untersucht werden, wie sich judenfeindliche Positionen im islamistischen Diskurs wiederfinden. In dem Text von 1988, der mittlerweile auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt, findet man die grundlegenden Auffassungen und Ziele der Organisation. Hierzu gehören auch Kommentare zu den Juden und Israel, welche als erklärte Feinde der "Hamas" gelten. Hier sollen dazu zwei Fragen beantwortet werden: Aus welchen geistigen und kulturellen Traditionen leiten sie sich ab? Und: Welche Konsequenzen verbinden sich damit bei einer Umsetzung für die Juden und den Staat Israel?

 

Die Hamas als islamistische Organisation

"Hamas" steht in der arabischen Sprache für "Eifer" oder "Engagement". Gleichzeitig handelt es sich um eine Abkürzung für "Harakat al-muqawama al-islamiya" ("Bewegung des islamischen Widerstandes"). Das Emblem der Organisation zeigt u.a. eine Karte vom heutigen Israel mit dem Gaza-Streifen und Westjordanland, was vollständig für das zukünftige Palästina beansprucht wird. Damit artikuliert sich bereits eine politische Grundposition der Organisation, die als palästinensischer Zweig der "Muslimbruderschaft" erstmals 1987 unter ihrer heutigen Bezeichnung öffentlich auftrat. Zunächst beschränkte man sich auf soziale Arbeit und religiöse Propaganda. Erst nach der ersten Intifada ging die "Hamas" zur Gewaltanwendung über, was sich auch in zahlreichen Selbstmord-Anschlägen zeigte. Bei den Wahlen 2006 erhielt man als Partei die absolute Mehrheit der Mandate im palästinensischen Legislativrat.

 

Der Text der Hamas-Charta als Quelle

Bei der am 18. August 1988 erstmals veröffentlichten Charta der Hamas handelt es sich um einen Text, der in der hier zitierten deutschsprachigen Übersetzung zwanzig eng bedruckte Seiten umfasst. Die mit Kapitelhinweisen und Seitenzahlen im Folgenden belegten Zitate entstammen folgender Übersetzung: Charta der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas (aus dem Arabischen von Lutz Rogler [Redaktion INAMO, Berlin]), in: Helga Baumgarten, Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006, S. S. 207-226. Zwischen der Präambel und dem Schlusswort finden sich fünf Kapitel mit 34 einzelnen Artikeln. Dabei entspricht die formale Stringenz der Strukturierung des Textes aber nicht unbedingt auch einer inhaltlichen Stringenz, d. h. entgegen der Ankündigung in den einzelnen Überschriften findet man darunter auch Positionen zu ganz anderen politischen Fragen. Der Text der Charta der Hamas steht unabhängig vom Ausmaß seiner Verbreitung für das politische Selbstverständnis der Organisation.

 

Das Bild von Israel und Palästina im Text

Die "Hamas" postuliert, "dass das Land Palästinas ein islamisches Waqf-Land für die Generation der Muslime bis zum Tag der Auferstehung ist". Dies meint, dass es sich bei Palästina um eine Art fromme Stiftung, um ein islamisches Land handelt. In dieser Perspektive steht die Region vollständig im Besitz der Muslime und zwar als Ergebnis einer göttlichen Vorgabe. Dies bedeutet für die "Hamas" denn auch: "Weder darf es oder ein Teil von ihm aufgegeben werden noch darauf oder auf einem Teil von ihm verzichtet werden ..." (S. 212, Artikel 11). Dazu seien weder Organisationen, Regierende noch Staaten berechtigt. Jede Abweichung von diesem Grundprinzip deutet man als Verstoß gegen Gottes Willen. Dies meint letztendlich auch, dass ein Existenzrecht Israels niemals anerkannt werden kann, da es in dieser Sicht gegen die diesbezügliche Deutung des Islam spreche. Als tagespolitische Konsequenz ergibt sich aus dieser Auffassung die Ablehnung jeglicher Friedenslösungen und -verhandlungen.

 

Die gewaltsame Zerschlagung Israels als Ziel

Das beschriebene Bild von Israel und Palästina bedingt aber nicht nur eine Ablehnung von Friedensgesprächen, sondern auch die Grundposition zur Zerschlagung des Staates Israel. Dies deutet sich in der Charta bereits bei der Skizzierung des exklusiven Selbstverständnisses an: "Die Islamische Widerstandsbewegung ist eine einzigartige palästinensische Bewegung, die Gott ihre Treue gibt, den Islam zur Lebensweise nimmt und dafür wirkt, Gottes Banner auf jedem Fußbreit Palästinas zu hissen ..." (S. 210, Artikel 6). Im Kontext dieser Auffassungen findet man im Text auch immer wieder die Forderung nach einem "Dschihad", wobei hiermit der Aufruf zum gewalttätigen Kampf gemeint ist. So heißt es etwa: "Der Patriotismus ist aus Sicht der Islamischen Widerstandsbewegung ein Teil des religiösen Glaubens, und es gibt im Hinblick auf den Patriotismus nichts Weit- und Tiefgehenderes, als wenn, nachdem der Feind seinen Fuß auf das Land der Muslime gesetzt hat, der Dschihad gegen ihn zu führen" (S. 213, Artikel 12) ist.

 

Die antisemitische Dimension der antizionistischen Positionen

Die vorgenannten Auffassungen und zitierten Passagen sind keineswegs lediglich antizionistisch gegen Israel.

Sie sind auch antisemitisch gegen die Juden gerichtet. Als ein erstes Indiz dafür kann schon die Wortwahl gelten, benennt der Text die feindlichen Akteure doch gerade nicht als "Israelis" und nur selten als "Zionisten". Vorherrschend ist die Formulierung "Jude" für den jeweiligen Feind. Darüber hinaus heißt es an einer Stelle: "Israel ist mit seinem jüdischen Charakter und seinen Juden eine Herausforderung für den Islam und die Muslime" (S. 222, Artikel 28). Auch direkte Aufforderungen zur Gewaltanwendung im Text lassen deren antisemitischen Charakter erkennen: "Der Gesandte Gottes ... sagt: ´Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn´, außer der Gharqad-Baum, denn er ist ein Baum der Juden" (S. 211, Artikel 7).

 

Propagierung antisemitischer Verschwörungsvorstellungen

Bestärkt wird die Auffassung, wonach es sich bei der Charta der "Hamas" um einen antisemitischen Text handelt, noch durch die darin enthaltenen Verschwörungsvorstellungen. Dabei macht die Hamas das behauptete konspirative Wirken von Juden für viele negative Entwicklungen verantwortlich: "Sie streben danach, gewalttätige und mächtige materielle Reichtümer anzuhäufen und sich ihrer zur Verwirklichung ihres Traums zu bedienen. So erlangen sie durch das Vermögen die Kontrolle über die internationalen Medien ... Durch das Vermögen lösten sie Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt aus, um ihre Interessen zu verwirklichen und Gewinne zu erzielen. Sie standen hinter der französischen Revolution, den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen hier und da, von den wir gehört haben und hören" (S. 218, Artikel 22). Die zitierten Behauptungen entstammen dem Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus, hatte man doch bereits vor den Nationalsozialisten von einer "jüdisch-freimaurerischen Verschwörung" gesprochen.

 

Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion"

Die Auffassungen in der Charta erinnern an die "Protokolle der Weisen von Zion", eine antisemitische Fälschung, welche die Existenz einer weltweiten jüdischen Konspiration behauptet. Die Hamas beruft sich auf diese Schrift sogar in aller Deutlichkeit: "Das zionistische Vorhaben ist grenzenlos, und nach Palästina streben sie nach der Expansion vom Nil bis zum Euphrat. Wenn sie das Gebiet völlig verschlungen haben, zu dem sie vorgedrungen sind, trachten sie nach einer weiteren Expansion und so fort. Ihr Vorhaben steht in den 'Protokollen der Weisen von Zion', und ihr gegenwärtiges Handeln ist der beste Beleg für das, was wir sagen" (S. 224, Artikel 33). Die Hamas unterstellt demnach nicht nur das jahrhundertelange Bestehen einer jüdischen Verschwörung, sie beruft sich hierbei auch offen auf die wohl bedeutendste antisemitische Hetzschrift des 20. Jahrhunderts. Obwohl bereits seit Beginn der 1920er Jahre bekannt war, dass es sich um eine Fälschung handelte, fanden die "Protokolle" auch nach 1945 vor allem in der arabischen Welt weiter Verbreitung.

 

Kontroverse Einschätzungen zur Bedeutung der Charta

Die antisemitischen und antizionistischen Grundpositionen im Text der Charta der "Hamas" sind durch die vorstehenden Ausführungen und Zitate deutlich geworden. Gleichwohl gibt es bezüglich der Bewertung und dem Stellenwert des Textes auch andere Stimmen: Danach sei kein Mitglied zu deren Lektüre verpflichtet und die Charta habe für die palästinensische Gesellschaft nur wenig Relevanz. Der Hinweis auf den Text diene westlichen Kritikern als Grundlage für eine Dämonisierung der "Hamas" (Helga Baumgarten). Dieser Hinweis kann aber allenfalls für die Einschätzung der Breitenwirkung ein Argument sein. Die Bewertung des Inhalts ändert sich dadurch nicht.. Immerhin hat sich die palästinensische Organisation diesen Text als eigenes Programm im Sinne eines politischen Selbstverständnisses gegeben. Die Charta ruft ganz offen zur Tötung von Juden als Mittel auf, um das Ziel eines islamischen Palästinenserstaates zu erreichen. Die Bewertung solcher Forderungen als Ausdruck eines eliminatorischen Antisemitismus ist deshalb angemessen.

 

Zusammenfassung

Bilanzierend können die oben gestellten beiden Fragen wie folgt beantwortet werden: Die Grundlagenwerke des Islams und Erklärungen der "Muslimbruderschaft" sind für die Hamas die ideengeschichtlichen Bezugspunkte in der Vergangenheit. Darüber hinaus knüpft die "Hamas" in ihrer Charta an das Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus an, was sich aus der ausdrücklichen Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion" ergibt. Was die konkreten Folgen des Antisemitismus und Antizionismus im Text angeht, so lässt sich aufgrund der klaren und offenen Wortwahl der "Hamas" konstatieren: Die Juden und der Staat Israel sollen bis zur Vernichtung und Zerschlagung gewalttätig bekämpft werden. Die früheren Wellen von Selbstmordattentaten auch und gerade gegen zivile Einrichtungen und Personen in Israel können als ein direkter Ausdruck dieser grundlegenden Position gelten. Der Text lässt demnach sowohl am Antisemitismus und Antizionismus wie am Gewaltbezug und Vernichtungswillen der "Hamas" keinen Zweifel.

 

Die zweite Charta der Hamas von 2017

Die erste Charta bzw. die Gründungscharta der Hamas von 1988 löste aufgrund der erwähnten Inhalte nachvollziehbare Kritik aus, trat man darin doch offen für Israels gewalttätige Vernichtung ein. Einige israelische Botschaften stellten den Charta-Text sogar auf ihre Homepage, um die antisemitische Ausrichtung der Hamas zu dokumentieren. Der dadurch erfolgte Ansehensverlust in Kombination mit internen Konflikten führte dann 2017 zu einer Neufassung (vgl. Hamas in 2017: The document in full, in: Externer Link:www.middleeasteye.net). Diese zweite Charta fand auch breitere mediale Resonanz im Westen. Dabei blieb aber deren Bedeutung gegenüber der ersten Charta unklar. Ob es sich um eine Ergänzung oder Ersetzung handeln sollte, bekundete die Führung der Hamas nicht. Auch erfolgte gegenüber den Ausführungen in der ersten Charta keine direkte Distanzierung, eine kritische Erörterung von deren Inhalten ließ sich ebenso wenig konstatieren. Auffällig an der zweiten Charta war formal, dass sie 42 sehr kurz gehaltene Artikel enthielt, und inhaltlich, dass die darin enthaltenen Formulierungen gemäßigter gehalten waren.

 

Die erste und zweite Charta im Vergleich

Blickt man vergleichend auf die alte und neue Charta, so lassen sich gleichwohl einige inhaltliche Veränderungen ausmachen: Die Hamas berief sich nicht mehr auf die Muslimbruderschaft, die Islamisten als politische „Mutterorganisation“ gilt. Man wolle einen souveränen und unabhängigen Palästinenserstaat etablieren, in den Grenzen von 1967 mit der Hauptstadt Jerusalem. Eine Gleichsetzung oder Identifizierung von Juden und Zionisten erfolgte ebenfalls nicht mehr, abgelehnt werde die israelische Besatzung und nicht die jüdische Religion. Allgemein erweckte die neue Charta den Eindruck von Friedfertigkeit und Mäßigung. Doch wie angemessen war und ist eine solche Deutung angesichts der Handlungen der Organisation? Dominierten bei der zweiten Charta inhaltliche Gemeinsamkeiten oder strategische Motive? Antworten auf diese Fragen vermittelt die Lektüre des Textes, wobei die Einstellung gegenüber der Existenz Israels zentral ist. Darüber hinaus zeigt ein Blick auf die Gewalttaten der Hamas auch schon vor 2023, dass die Bekundungen der Hamas nicht ihren Taten entsprechen.

 

Kontinuierliche Ablehnung des Existenzrechts von Israel

Liest man die Artikel der ganzen Charta, so können in bedeutenden Fragen sehr wohl Kontinuitäten ausgemacht werden. So heißt es: „Das zionistische Projekt ist ein rassistisches, aggressives und separatistisches Projekt … Und der israelische Staat ist das Werkezeug dieses Projekts und sein Fundament“ (Artikel 14). Die Aussage bezieht sich auf Israel, unabhängig von der Frage der Grenzen von 1967 oder den Siedlungsprojekten. Es geht um eine grundsätzliche Delegitimation des Staates. Entsprechend gilt die Gründung von „Israel“ als illegal, was auch die bewusst gesetzten Anführungszeichen den Lesern veranschaulichen sollen (Vgl. Artikel 18). Und man kann lesen: „Hamas lehnt jede Alternative zu einer kompletten und vollständigen Befreiung von Palästina ab, vom Fluss zum Meer“ (Artikel 20). Das ist eine deutliche Aussage, die sich gegen die Existenz des israelischen Staates richtet. Er soll zugunsten eines souveränen Palästinas nicht mehr existieren, was man sich schwerlich ohne einen Vernichtungskrieg vorstellen kann. Auch bei Demonstrationen in Europa ist „From the River to the Sea, Palestine will be free “ (oder die Kurzform: „From the River to the Sea“) eine häufig gerufene und gezeigte Parole.

 

Fortgesetzte Legitimation des gewaltsamen Vorgehens

Bezüglich des genauen Agierens äußert sich auch die neue Charta nicht. Es heißt aber: „Widerstand und Jihad für die Befreiung von Palästina bleibt ein legitimes Recht …“ (Artikel 23), was auch entsprechende Gewalttaten als konkrete Praxis mit einschließt. Alle Handlungsweisen entsprächen legitimen Rechten, auch der „bewaffnete Widerstand“ (vgl. Artikel 25). Es ist hier jeweils von Befreiung die Rede, auch vom Widerstand. Beide Bezeichnungen sind positiv konnotierte Wörter. Sie stehen auch für Gewaltanwendung – ohne Grenzen. Die Charta nimmt keine Einschränkungen vor, alle Handlungen in diesem Sinne wären demnach möglich. Insofern bestehen hier zwischen der alten und neuen Charta keine grundlegenden Differenzen. Lediglich die Formulierungen weisen in ihrer Schärfe gewisse Unterschiede auf. Daher kann hinsichtlich der bedeutsamen Frage, wie die Hamas zum Existenzrecht des israelischen Staates steht, keine Mäßigung konstatiert werden. Allein die bekannte Forderung „vom Fluss bis zum Meer“ bedingt in der inhaltlichen Konsequenz eine entsprechende gewaltgeprägte Vernichtungsabsicht.

 

Bekenntnisse zu Demokratie und Pluralismus als Täuschung

Andere Bekundungen in der neuen Charta können diesen Eindruck schwerlich verwerfen, denn die angesprochenen Bestandteile des eigenen Politikverständnisses entsprechen nicht der Realität. So gibt es auch Ausführungen zum „palästinensischen politischen System“, das auf der „Grundlage von Pluralismus, Demokratie, nationaler Partnerschaft, Akzeptanz des Anderen und der Bereitschaft zum Dialog“ bestehen soll (Artikel 28). Angestrebt werde die Ausrichtung palästinensischer Institutionen nach „demokratischen Prinzipien“, insbesondere nach „freien und fairen Wahlen“ (Artikel 20). Es stellt sich hier aber die Frage, warum die Hamas seit Jahren keine Wahlen durchführt. Es stellt sich ebenfalls die Frage, warum in Gaza die Hamas-Herrschaft keinen Pluralismus zulässt. Man merkt der Ausrichtung in der neuen Charta an, dass es um politische Anerkennung und öffentliche Wirkung gehen soll. Die formale Mäßigung im Text hatte somit ein klares Ziel: Es ging nicht um eine ideologische Änderung, sondern um strategische Täuschung. Spätestens die Hamas-Massaker im Oktober 2023 veranschaulichten dies der ganzen Welt.

 

Aktualisierte und ergänzte Version des Textes vom 04.07.2011

Recht zur Verbreitung CC BY-NC-ND 4.0 DEED

https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36358/antisemitismus-und-antizionismus-in-der-ersten-und-zweiten-charta-der-hamas/#node-content-title-2

 

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