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Über Henker und Folterkammern (Wolodymyr Jermolenko)

Wolodymyr Jermolenko - Über Henker und Folterkammern

 

Um Putin zu verstehen, müssen wir uns mit seiner eigentlich als faschistisch nur bezeichnenden Ansicht einer dem Westen überlegenene "Russki Mir" beschäftigen. "Russki Mir (deutsch Russische Welt) ist die schon bestehende, von der russischen, als  die  einzig richtige Kirche unterstützte Kirche, wieder  wiederbelebte Ideologie, die eine kulturelle Totalität alles Russischen beansprucht.

 

Dieses Konzept ist das zentrale Element der den Imperialismus in der Strategie der Außenpolitik  des heutigen Russlands. Putin verwendete bereits 2001 diesen Begriff öffentlich und schuf damit den wichtigsten Baustein des Putinismus. Daraus  leitet er seine politische, identitäre und geopolitische Standpunkte ab, die explizit auch Russen in der Diaspora, vor allem im näheren Ausland, aber auch russische Auswanderer und ganz  allgemeine Russischsprachige einschließt. Die  "Russki Mir" ist somit die gesamte russische Einflusssphäre und umfasst sämtliche Gebiete, in denen das Russische präsent ist.“ (Wikipedia)

 

Ich danke meinem Freund, dem Ikonenkünstler Danylo Movchan, der mich auf den ukrainischen Philosophen Wolodymyr Jermolenko aufmerksam gemacht hat. Dieser schreibt über den Unterschied der russischen und europäischen Philosophie: 

 

 

Gewalt als Kern der Existenz der russischen Gesellschaft

 

Die Werte der Moderne entwickelten sich aus der intensive Reflexion der europäischen (vor allem französischen) Philosophie über die Figur des Henkers. Und um das Problem des Todes, den die Gemeinschaft einem Individuum als Strafe zufügt.

 

Diese Überlegungen begannen im späten achtzehnten Jahrhundert mit Joseph de Maistre, obwohl sie wahrscheinlich viel tiefere Ursprünge haben. Für de Maistre, einen Katholiken, führte der Schock der „industrialisierten“ Guillotine der Französischen Revolution (die er hasste) zu der Überzeugung, dass der Tod, zu dem eine Gemeinschaft ein Individuum verurteilt, etwas fast Weltfremdes, fast Unmenschliches sein sollte, und dass deshalb die Figur des Henkers aus der Gesellschaft herausgenommen werden sollte. Der Tod sollte nicht banal werden. Der Henker musste ein notwendiges Übel begehen - aber gleichzeitig war der Akt der Hinrichtung weiterhin böse, und deshalb konnte der Henker nicht Teil einer gesunden Gesellschaft sein, er stand immer am Rande und gehörte zum Teil zur anderen Welt. Das ist es, was de Maistre den homo sacer (vogelfreier Mensch) nannte. Für ihn war „sacer“ (abscheulich, verwerflich, dem Untergang geweiht) etwas, das über die irdische Welt hinausging, das Gott gegeben war (und vielleicht nicht nur ihm). 

 

Seitdem gibt es in der französischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts all die Geschichten über Menschen am Rande der Gesellschaft, über all diese heiligen Verbrecher, „Banditen“, die diese verborgene Wahrheit in sich tragen, usw. Dann taucht dieses Thema bei europäischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts auf, bis hin zu Agambens Homo Sacer (in dem Versuch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, das Phänomen totalitärer Ideologien in der Moderne zu verstehen, verwendet er die Figur des homo sacer als Grundlage seiner Überlegungen). Meiner Meinung nach hat es seine ursprüngliche Idee verloren.

 

Ich will damit sagen, dass die russische Welt völlig anders ist. Sie ist auf einer anderen Logik aufgebaut. Der Henker steht in der russischen Welt nicht am Rande der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Die wichtigsten russischen Zaren - Iwan der Schreckliche, Peter der Große und Stalin - waren in erster Linie Henker. Ein Folterer zu sein (und sogar ihre Kinder zu töten) ist der Kern ihrer Identität. 

 

Gewalt wird in der russischen Welt nicht als notwendiges, aber unerwünschtes Übel interpretiert, als ein Übel, das in Einzelfällen angewandt wird - und das dich außerhalb der Gesellschaft stellt -, sondern als der wichtigste Kern der Existenz einer Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft existiert nur, wenn sie einen Henker hat. Nur er, der Herrscher als homo sacer, entscheidet, wer Teil der Gemeinschaft ist und wer nicht. Er wird nicht aus ihr herausgenommen, sondern er selbst nimmt diejenigen aus ihr heraus, die er nicht mag. Auch jenseits der Grenzen des Lebens.

 

Und deshalb ist die Folterkammer als Ort, als Prozess, die Grundlage der russischen Besatzung. Für die russische Welt ist Gewalt nicht ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen, wenn andere Ziele nicht zur Verfügung stehen (Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie der Europäer Clausewitz sagte), sondern sie ist das Material, aus dem die Macht geformt wird und mit dem der Folterer zeigt, „wer das Sagen hat“. Die Grundlage der russischen Welt sind Krieg und Gewalt - und die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die gespielte Höflichkeit eines KGB-Offiziers, der seinen Wunsch, dich zu vernichten, mit seiner Höflichkeit kaschiert, dient dieser Ideologie.

 

Das ist der Unterschied zwischen Europa und Russland.

 

 

Die Tragik der "Russki Mir" (Kommentar)

 

Diese Erkenntnis sollten wir immer wieder bedenken, wenn wir uns mit Russland beschäftigen. Wenn dies das Wesen der "russischen Welt" und damit seiner Kultur ist, dann gehört Russland nicht zur europäischen Welt und wird für uns immer gefährlich bleiben. Ich sage manchmal, dass Russland für uns kein normales Land sein will wie andere, ein Land, das wir gerne besuchen und lieben. Russland will nicht, dass wir es lieben, sondern dass wir seine Macht und Grösse fürchten. Nur so findet dieses Land seine Anerkennung. Wenn dies der Fall ist, wird Russland immer eine Bedrohung für uns bleiben, gegen die wir uns verteidigen müssen. 

 

Es gab und gibt eine Minderheit in Russland, die aus diesem Gefängnis ausbrechen und das Land zu einem Teil der europäischen Kultur machen will, die sie bewundert. Aber früher oder später landen sie alle im Gefängnis, verlassen das Land oder werden getötet (siehe etwa Alexej Nawalny). Für mich wird die russische Welt, die Putin für die beste Welt hält, von einem Dämonen regiert.  Sehen Sie sich zum Beispiel Dostojewski an in seinem Romanen, etwa «Die Dämonen», «Der Idiot». Russland muss sich von diesem Geist befreien. Aber wird es jemals anders ein?  

 

Dostojewski erhielt eine gute europäische Bildung und landete später wegen seinen seinen Werkenim Straflager. Die zentralen Fragen, die von den Protagonisten auf jeweils eigene Weise beantwortet werden, sind die nach der Existenz Gottes und dem Sinn des Lebens. Die Rezeption von Dostojewski war sehr unterschiedlich und ambivalent. Er wurde als grösster Autor der Weltliteratur gefeiert, aber auch heftig kritisiert. Als während des Zweiten Weltkrieges Bedarf an nationalen Identifikationsfiguren entstand, die den Patriotismus anfachen sollten, wurde Dostojewski vorübergehend rehabilitiert, etwa durch Wladimir Ermilow, der Die Dämonen nun als brillantes prophetisches Porträt des modernen Faschismus deutete.

 

Dostojewskis Person und Werk gelten der russischen Neuen Rechten heute als richtungsweisend. Der Maler Ilja Glasunow, selbst ein Anhänger der vorrevolutionären monarchistischen Ordnung, thematisierte den übergeordneten Stellenwert des Schriftstellers für das großrussische Geschichtsdenken in den 1990er Jahren im Monumentalgemälde Ewiges Russland, in dem er Dostojewski den zentralen Platz im Pantheon der russischen Nationalheiligen und Geschichtsakteure gibt. Damit dient er wieder als Verteidiger der imperialistischen und dem Westen überlegenen „Russki Mir“.

 

 

Der Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa (Wolodymyr Jermolenko)

 

In einer Veranstaltung des Lew Kopolew-Forums an der Universität Köln weist der ukrainische Philosoph auf zwei sehr wichtige Unterschied in der Erfahrung von Ost- und Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg hin: Im Westen bedeutete der Sieg über Nazideutschland der Sieg des Guten über das Böse. Im Osten aber der Sieg eines Bösen über ein anderes Böses. Die Menschen in Osteuropa wurden nicht befreit, sie gerieten wieder über ein fundamental als Böse zu bezeichnendes System, das sie unterdrückte und überwachte, ihnen keine Freiheit liess, sondern sämtlichen Aufstände sofort gewaltsam ein Ende bereitete. 

 

Überhaupt gibt es in der westlichen Philosophie kaum ein Nachdenken über das Böse. Das Wort ist geradezu verpönt, da kaum jemand an seine Existenz glauben möchte. Im Osten aber ist durch die Erfahrung des Bösen die Existenz des Bösen so offensichtlich, dass die Philosophie es nicht übersehen kann. 

 

Zudem löste sich Westeuropa von seinem Imperialismus und entliess ihre einmal eroberten Länder in die Unabhängigkeit. Die Sowjetunion bereitete ihren schon bestehenden Imperialismus aber weiter aus und beherrschte die Staaten Osteuropas. 

 

Diese unterschiedliche Erfahrung wird in Westeuropa heute immer noch nicht wirklich beachtet.

 

 

Weitere Kommentare (aus Facebook)

 

Ein psychopathischer Affe hat bemerkt, dass es möglich ist, andere Affen zu kontrollieren, indem er ihnen absichtlich Schmerzen und Leiden zufügt - und hat es sich zum Werkzeug gemacht, um aus seiner Macht über andere Vergnügen zu ziehen. 

 

Ich kaue gerade an Grange's „Land of the Dead“. Deine Kommentare über das Böse, den Henker und die Franzosen haben ein wenig verdeutlicht, wie die Menschen sich alles antun... und was die Russen angeht, müssen wir uns wohl ein anderes Wort einfallen lassen - keine Gesellschaft, die sich um des Guten willen organisiert, eine Vereinbarung mit dem Verbrechen... 

 

Es wäre falsch zu behaupten, dass Europa im späten Mittelalter ebenfalls diesen wackeligen Weg eingeschlagen hat (die Apotheose ist die Inquisition: „Wer nicht mit uns ist, geht in die Hände des Henkers“), es aber irgendwie geschafft hat, davon „abzuspringen“, und Russland hatte die Chance, dies zu tun, aber...

Der Scharfrichter-1, der aus dem Entscheidungsprozess herausgehalten wird und nur der Vollstrecker des Urteils ist, und Scharfrichter-2, der Urteile verhängt und selbst vollstreckt, stehen für zwei grundlegend unterschiedliche soziale Strukturen. Für Iwan IV. (der Schreckliche) war Maljuta Skuratow (sein Hernker) ein besonders enger Vertrauter, so wie Beria (Chef des späteren KGB) für Stalin. 

Bonus

Skript eines Referats von Wolodymyr Jermelko: "Die globale Krise als Herausforderung an uns alle"

 

https://www.max-hartmann.ch/2025/02/03/die-globale-krise-als-herausforderung-an-uns-alle/

 

 

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